Danzig - Wo einst alles begann
Danzig (n-ost) Die Stadt Danzig hat größere Demonstrationen gesehen: Im August 1980 waren hier 18.000 Arbeiter der Lenin Werft und viele befreundete Betriebe im Ausstand, um die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc durchzusetzen. In der Nacht zum EU-Beitritt versammeln sich knapp 3.000 Danziger auf dem Kohlenmarkt, um diesen historischen Augenblick zu feiern. Die Mehrzahl der Leute ist 30 Jahre alt oder jünger. An die Solidarnosc-Zeit, die den großen Aufbruch im Osten vor fast 25 Jahren einläutete, haben sie kaum noch Erinnerungen. Ein paar polnische Fahnen werden geschwenkt, blaue Luftballons mit dem Sternenkranz der EU verteilt. Keine Solidarnosc-Fahne weht, die Veteranen bleiben der Feier fern. Und dies liegt nicht allein an den beiden Rock-Bands, die die Zeit bis Mitternacht verkürzen sollen.
Ausgerechnet zum EU-Beitritt schwebt wieder einmal der Pleitegeier über den Restbeständen der Danziger Werft. Etwa 2500 Arbeiter sind noch auf dem riesigen Gelände beschäftigt, die Kräne reichen ganz nah an die Danziger Altstadt heran. Wie riesige tote Spinnenbeine hängen sie jetzt regungslos in der Luft. Der Schiffsbau ist tot. Nur noch Instandsetzungsarbeiten werden in den Trockendocks verrichtet. Die einst mächtige Gewerkschaft Solidarnosc ist in ihrer historischen Größe nur noch in dem Museum „Wege zur Freiheit“ am Haupteingang der Werft zu bewundern. Schon lange hat sich die Bewegung in unbedeutende Kleingruppen gespalten, ihr alter Heros Lech Walesa ist mit ihr an der Realität gescheitert und wurde bei der letzten Präsidentenwahl mit einem Prozent der Stimmen abgestraft. Die Revolution hat ihre Kinder gefressen. Und in Danzig verblasst selbst die Erinnerung an die bewegte Vergangenheit so schnell wie die kämpferischen Inschriften auf dem Dach am Werkstor: „Die Werft war, ist und wird immer sein.“ Nun hat ein amerikanischer Investor große Teile des Werftgeländes aufgekauft und möchte hier für Gutbetuchte eine „City am Wasser“ hochziehen. Fragt man Danziger Studenten nach dem August 1980, zucken sie nur gelangweilt mit den Schultern. Das Museum haben die wenigsten besucht, den Glauben an die Politik längst verloren.
Würden die Danziger, würden die Polen den EU-Beitritt überhaupt feiern? Diese bange Frage stellten sich Ausländer und die Organisatoren der Beitrittsfeiern in den vergangenen Tagen immer wieder. Immerhin hat die Stadt ein viertägiges Festprogramm auf die Beine gestellt, bis einschließlich zum 3. Mai, der in Polen traditionell ebenfalls Feiertag ist – Rockkonzerte, Klassische Musik und Flottenparade inklusive. Die Laternenmasten entlang der Hauptstraßen wurden mit den Fähnchen Polens, Danzigs und der EU flächendeckend in Stimmung gebracht. Vergebens?
Am Besten bringt die Boulevardzeitung „Super express“ die gespaltenen Gefühle der Einwohner auf den Punkt. Zum EU-Beitritt erscheint sie mit zwei Titelbildern auf Vorder- und Rückseite. Je nach Stimmungslage kann sich der Leser seinen Lieblingstitel aussuchen. Einer ist in der EU-Farbe blau gehalten, titelt „Morgen ein neues Polen“, zeigt den polnischen Adler im Sternenkranz und ist laut Aufschrift für die „Optimisten“. Die andere Seite für die „Pessimisten“ ist ganz in schwarz gehalten und sperrt die polnische Flagge hinter einen bürokratischen Stacheldraht. Im Inneren erklären dann einfache Polen warum sie den EU-Beitritt fürchten oder herbeisehnen. Die Angst vor Preiserhöhungen und vor der Dominanz von Deutschland, England und Frankreich tritt gegen die Hoffnung auf offene Grenzen und die Linderung der horrenden Arbeitslosigkeit an.
Nur langsam füllt sich am Abend des 30. April der Platz vor dem Danziger Theater. Die Stimmung unter den Leuten ist undefinierbar, irgendwie auf der Suche nach Klarheit. Soll man sich freuen, oder sich doch von der Last der zu erwartenden Aufgabe zu Boden drücken lassen. Die ruhigen Lieder des in Polen populären Duos Aleksandra Lipnicka und John Porter erinnern eher an eine Beerdigung. „Wir haben die Europäische Union schon vorgelebt“, ruft die polnisch-britische Kombination ins Publikum. Stimmung kommt deshalb noch lange nicht auf. Doch die nachfolgenden Rockgruppe „Raz, Dwa, Trzy“ beweist, dass es durchaus Leute gibt, die sich an diesem Abend freuen wollen. „Die größten Grenzen auf dem Weg nach Europa liegen in uns selbst“, sagt der Sänger unter großem Applaus. Dann singt er das Lied „Morgen werden wir glücklich sein...wenn es ein Morgen gibt“.
Der Morgen kommt und es ist ein historischer Morgen. Die Menschen auf dem Kohlenmarkt zählen gemeinsam den Countdown in eine neue Ära. Punkt Mitternacht ertönt die Polnische Nationalhymne und dann erleuchtet unter den Klängen von „Freude schöner Götterfunken“ ein Feuerwerk den sternenklaren Nachthimmel, wie es Danzig noch nie erlebt hat. Der Moment ist ergreifend. Alles blickt fasziniert zum Himmel und versucht aus den funkelnden Figuren die Zukunft zu lesen. Eine Revolution findet ihre Erfüllung. Hier am Geburtsort der Gewerkschaft Solidarnosc. Genau einen Satz ist dem Danziger Stadtpräsident diese glorreiche Vergangenheit wert. Die alten Revolutionäre stehen abseits, die Enttäuschten sind zu Hause geblieben. Es zählt nur der Blick nach vorn. „Für unsere Kinder, für unsere Enkel“, hatte der Stadtpräsident in die Menge gerufen. Und die junge Mutter Angelika Kwidzinska ergänzt: „Man muss es versuchen. Man muss immer versuchen.“
Ende