Russland

Wahlbeobachter unter Druck

Wladimir Jegorow steht vor einem schlichten Gebäude in Dorogomilowo, einem Viertel im Westen Moskaus. Hier, in dieser Schule war er erstmals Wahlbeobachter. Bei den letzten Parlamentswahlen in Russland vor fünf Jahren habe sein damaliger Chef den Angestellten diktiert, gemeinsam im Büro per Briefwahl abzustimmen. Der 48-jährige Jegorow war empört – und wurde zum Aktivisten. Er schloss sich dem Aufruf von „Golos“ an, jener Organisation, die bei den Wahlen 2011 maßgeblich daran beteiligt war, Missstände und Verzerrungen aufzudecken.

So wie Jegorow setzten sich damals Tausende für faire Wahlen ein. Kurz zuvor hatte Wladimir Putin seine Rückkehr auf den Präsidentenstuhl angekündigt und Unmut machte sich in Teilen der Bevölkerung breit. Als sich am Wahltag Hinweise auf massive Fälschungen häuften, kippte die Stimmung. Mehr als 100.000 Menschen gingen in den darauf folgenden Wochen landesweit auf die Straßen. Es war der Anstoß für eine Protestbewegung, die das Land seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht gesehen hatte – und die bis weit in das Jahr 2012 hineinreichen sollte.

Grigori Melkonjanz sitzt im Büro eines Flachbaus, er leitet die Moskauer Zentrale von „Golos“. Die Organisation rekrutiert und schult unabhängige Wahlbeobachter. Die nächsten Parlamentswahlen stehen am 18. September an, doch Melkonjanz hat Schwierigkeiten, neue Helfer zu finden. „Die Menschen sind müde geworden, apathisch“, stellt er fest. Zwischen 2011 und heute liegen Verhaftungen, Schauprozesse, die Annexion der Krim und der Kriegsausbruch im Donbass. „Die Leute wissen nicht mehr, worauf sie überhaupt noch Einfluss haben“, sagt Melkonjanz. Zudem hat das Justizministerium „Golos“ als sogenannten „ausländischen Agenten“ gebrandmarkt, begründet mit früheren Zuwendungen aus dem Ausland. Das Stigma bleibt haften.


Hunderte Verstöße schon im Wahlkampf

Noch größere Sorgen macht sich Melkonjanz allerdings wegen der neuen, restriktiven Gesetze. Ein Wahlbeobachter darf nicht mehr zwischen verschiedenen Wahllokalen wechseln, sondern muss in einem konkreten Lokal eingesetzt werden. „Damit wird unsere Arbeit ernsthaft eingeschränkt“, so Melkonjanz. „Früher hatten wir auch mobile Gruppen“, erklärt er. Die konnten auf Zuruf los, wenn Hinweise auf Verstöße per Hotline oder Social Media gemeldet wurden. Das sei nun unmöglich. Zu befürchten sei auch, dass die Daten der Helfer in die Hände von Arbeitgebern gerieten.

Hunderte Verstöße liegen „Golos“ bereits aus dem laufenden Wahlkampf vor. Ganz offen würden viele Verwaltungen zum Beispiel ihre Wunschkandidaten unterstützen, sagt Melkonjanz – sei es mit der Organisation von Veranstaltungen im Wahlkreis oder PR in staatsnahen Medien. Was einst verdeckt betrieben worden sei, verkünde manch Beamter heute gar mit Stolz. Für den Bürgerrechtler ist das eine fast zwangsläufige Entwicklung: „Es wurde über die Jahre nicht geahndet.“ Die nutznießenden Kandidaten kommen meist von der alles dominierenden, kremltreuen Partei „Einiges Russland“.

Am Wahltag wollen sie mit mindestens 5.000 Wahlbeobachtern in mehr als 40 Regionen präsent sein, sagt Melkonjanz. Nicht einmal die Hälfte hat „Golos“ bislang beisammen.

Der Moskauer Wladimir Jegorow ist wieder dabei. Dutzende Wahlen hat er inzwischen begleitet: lokal, regional, international. Er ist der Koordinator für die Beobachter im westlichen Moskau. Derzeit telefoniert er Kontakte ab, fragt, wer sich erneut engagieren möchte. Bis zu fünf Stunden am Tag ist er ehrenamtlich im Einsatz, halbtags arbeitet er als Wirtschaftsprüfer. „Je mehr Menschen zur Wahl gehen, desto schwieriger wird die Wahlmanipulation“, glaubt er. Deshalb sollten die Leute unbedingt abstimmen. Und hört gleichzeitig von vielen Seiten: „Warum soll ich wählen gehen? Sie schreiben doch selbst, wie viele Verstöße es gibt.“ Ausgerechnet das Engagement für faire Wahlen, sagt Jegorow, produziere solch ein seltsames Dilemma.


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Quellen:

Persönliche Interviews mit Grigori Melkonjanz und Wladimir Jegorow

Neue Gesetze, die Tätigkeiten von Wahlbeobachtern einschränken

Hintergrund zu „Golos“ und die Auseinandersetzung mit dem Justizministerium zur Registrierung als „ausländischer Agent“

Karte mit gemeldeten Verstößen gegen Wahlgesetze


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