RLW #62: Putschen gegen Putin
Der Putschversuch in der Türkei hat die Phantasie einiger russischer Regierungskritiker beflügelt: Während der Unruhen in Istanbul und Ankara konnten Russlandbeobachter live mitverfolgen, wie russische Liberale der türkischen Armee zujubelten, die ja - wie es damals schien - dabei war, Erdogan zu entmachten. Auch bei uns in Moskau, so schrieben die üblichen Facebook-Personalities, sei so eine Entwicklung längst überfällig.
Innerhalb weniger Stunden haben sich die Hoffnungen der russischen Kremlkritiker und ihre plötzliche Begeisterung für das türkische Militär in Luft aufgelöst. Doch die Frage blieb: Wäre ein vergleichbares Putsch-Szenario in Russland überhaupt vorstellbar? Mit dieser Frage hat sich Alexander Baunow von Carnegie Moscow beschäftigt. Und festgestellt: not so much.
Der letzte Versuch eines Militärputsches liegt in Russland nämlich schon fast 200 Jahre zurück, seit dem Aufstand der Dekabristen hat sich die russische Armee wenig für Umstürze interessiert, obendrein die postsowjetische Armee Russlands. Sie sei, wie Baunow schreibt, ihrem Selbstverständnis nach keine selbstbewusste Modernisierungskraft, die sich gegen einen korrupten und rückwärtsgewandten Herrscher erheben könnte, sondern „einer der Stände, der am Liebsten in der Nostalgie schwelgt“.
Selbst in den Köpfen junger Offiziere steht die Sowjetunion für das Höchste. Wer seine Laufbahn in der Sowjetunion begann, will naturgemäß die rote Fahne zurück. Russland ist eben kein Ägypten und kein Thailand: Eine Armee, die ein modernes Russland will, das sich von seiner Sowjetvergangenheit löst? Eine Armee, die sich gegen den Kreml erhebt? Undenkbar.
Woran liegt das? Vielleicht daran, sagt Baunow, dass die russische Armee, anders als die Streitkräfte vieler Transformationsländer Lateinamerikas oder Asiens, eben keinen prestigeträchtigen Stand hat. In Russland kommt ein reicher Unternehmer aus Moskau nie auf die Idee, seine Kinder auf die Militärakademie zu schicken.
Aufgestockte Militärbudgets und Machtdemonstrationen in Georgien und Ukraine haben nichts daran geändert, dass die Armee in Russland für die Kinder der Gebildeten und die Gutbetuchten keine Option ist, höchstens „eine gute Möglichkeit für jemanden aus der Provinz“, wie Baunow schreibt. Die Armee ist was für Abstiegsgefährdete, die Elite lässt davon die Finger - da ist eben nichts zu holen. Und wo nichts zu holen ist, gibt es kein Selbstbewusstsein, keinen Glauben, eine geschichtsträchtige Kraft zu sein.
Russlands Armee ist bestenfalls eine Kaste von „respektierten Profis, nicht die von Hütern deutlich ausformulierter Werte“. Womit wir bei der Frage wären, was denn russische „Werte“ sein sollen. Wenn es im Land selbst keine Übereinkunft darüber gibt - wieso soll dann die Armee darüber Klarheit haben? Hand aufs Herz: Wenn Putin eines Tages geht, dann nicht wegen der Armee.
„Russland letzte Woche“ ist ein eklektischer Rückblick auf die Vorgänge da drüben im Osten, geschrieben von Pavel Lokshin in Kooperation mit n-ost. Für Abonnenten jeden Montagmorgen als Newsletter und auf ostpol.
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