Besuch in Donezk: Was bleibt
Geben Sie bei Google das Wort „Kramatorsk“ ein. Auf Ihrem Bildschirm sehen Sie dann eine verschneite Wiese, darauf im Vordergrund eine reglos liegende Frau in schwarzer Kleidung, im Hintergrund sowjetische Plattenbauten.
Kramatorsk wurde nur ein einziges Mal von den Separatisten beschossen, aus dieser Zeit stammt das Bild.
Die Stadt gehörte zu den Orten nördlich von Donezk, die einige Monate in den Händen der Separatisten waren. Heute ist sie Hauptquartier der ukrainischen Armee in der Region und ansonsten ein etwas verschlafenes Provinzstädtchen. Wer in die von den Separatisten kontrollierten Gebiete reisen will, kommt meist hier an, mit einem ICE-artigen Schnellzug, in dem es freies WLAN und Flugzeugessen gibt.
Den Weg in die „Volksrepubliken“ habe ich Dutzende Male gemacht seit März 2014: Das erste Mal kam ich per Flieger auf dem luxuriösen Flughafen von Donezk an, dann fuhren nur noch Züge, später musste ich das Taxi von der nächstgelegenen Stadt nehmen. Bald bauten Ukrainer und Separatisten die ersten Checkpoints auf.
Bürotürme wie in Berlin
Inzwischen ist alles formalisiert: Es gibt entlang der Frontlinie mehrere „Grenzübergänge“ der Ukrainer, an denen Zöllner, Grenzer und Geheimdienstler die Reisenden kontrollieren. Wer sich nicht vorher auf einer speziellen Internetseite registriert hat, kommt nicht durch. Aber auch so dauert es bestenfalls vier Stunden, bis man durch ist. Es ist natürlich nur Spekulation, aber es scheint, als wollten die Ukrainer das Leben jenen, die sich von ihnen losgesagt haben, nun nicht zu leicht machen.
Während an den offiziellen Checkpoints Normalität herrscht, gibt es andere Stellen an der Front, an denen sich Ukrainer und Separatisten täglich beschießen. Als „Hotspots“ sind der Flughafen Donezk sowie die Städte Awdijewka und Gorlowka bekannt. Die Monitoring-Mission der OSZE zählte zuletzt wieder mehr Verletzungen des Waffenstillstandsabkommens von Minsk als in den Vormonaten. Allein im Juni sprach deren stellvertretender Leiter von 8.000 pro Woche. Und erst am Dienstag meldete die ukrainische Armee, in den letzten 24 Stunden seien sieben ihrer Soldaten getötet worden.
Was war Donezk noch im Frühjahr 2014 für eine Stadt! Die „Hauptstadt“ des Donbass mit ihrer knappen Million Einwohner war sowjetisch und modern zugleich: Prachtstraßen im Zentrum und die Plattenbauten am Rand, dazwischen aber 20-stöckige Bürotürme, wie sie auch in Berlin stehen könnten, Einkaufszentren und ein Fußballstadion erster Güte, in dem der beste Club der Ukraine spielte. Neben den Beamten, den Kohle- und Industriearbeitern hatte sich eine Mittelschicht entwickelt, die auch mal im Café frühstückte, die sich Volkswagen und einen Urlaub in Westeuropa leisten konnte.
Berichte über Strandpartys
Diese Schicht ist weg. Sie ist entweder geflohen, nach Russland oder in die Ukraine, weil es hier keine gut bezahlten Bürojobs mehr gibt. Oder sie ist verarmt, arbeitet jetzt vielleicht in der Verwaltung oder in einem Supermarkt. Alexej, der vor dem Krieg in seinem Ferrari mit 250 Sachen über die Hauptstraße der Stadt gefahren ist und jetzt ein Café betreibt, in dem niemand mehr frühstückt, sagte zu mir: „Der Krieg hatte auch etwas Gutes: Er hat uns zurück auf den Boden gebracht.“ Das klingt unverständlich für unsereins.
Die Führer der Volksrepublik versuchen, ihren Bewohnern zu vermitteln, dass man doch eigentlich ganz gut leben kann unter den Bedingungen eines nicht anerkannten Staats. Im Separatistensender „Oplot“ etwa berichtet ein junger, cooler Moderator täglich in seiner Sendung „Gute Nachrichten“ von Basketballturnieren, Hip Hop-Wettbewerben und Strandpartys.
Der Überlebens-Modus ist vorbei
Und die gibt es wirklich! Das Leben ist normaler geworden: Auf der Straße sind keine Panzer mehr zu sehen, auch keine wilden Gesellen in Camouflage und mit Kalaschnikows. Und nachts hört man nur noch ganz leise aus Richtung des Flughafens, wie sich Separatisten und ukrainische Soldaten gegenseitig beschießen. Aber das Gefühl der unmittelbaren Bedrohung ist weg.
Der Modus „Überleben“ ist vorbei, die Menschen leben wieder. Aber sie stellen sich nun ganz grundsätzliche Fragen, zuallererst: Gibt es hier eine Zukunft? Wenn die „Volksrepubliken“ weiter in dem heute herrschenden Schwebezustand bleiben, werden natürlich jene bleiben, die keine Wahl haben: Rentner, Beamte und Bergmänner. Aber die jungen Donezker, die sich heute fragen, was sie später mal mit dem Diplom einer nicht anerkannten Republik anfangen können, werden die Gebiete verlassen.
Als ich kurz nach meiner Rückkehr aus Donezk einen Vortrag in Berlin hielt, wurde ich am Ende gefragt: „Fühlen sich die Menschen dort als Ukrainer oder Russen?“ Es ist eine aus unserer Sicht offensichtliche Fragestellung, die wohl auch Antwort darauf geben soll, wo diese Menschen ihre Zukunft sehen. Ich kam ins Stottern bei der Antwort, und erst später wurde mir klar, warum: Diese Frage steht derzeit für die Menschen in Donezk an zehnter Stelle.
Warum bin ich in diesen Text mit einem Bild eingestiegen? Weil ich verstanden habe, dass der Satz stimmt: Bilder sagen mehr als tausend Worte. Aber sie täuschen. Was für Kramatorsk wahr ist, gilt auch für Donezk. In den Köpfen der Menschen hierzulande hat sich das Bild einer zerstörten Stadt eingeprägt. Und es reproduziert sich selbst: Meine jüngste Reportage aus Donezk bebilderte eine deutsche Regionalzeitung mit einem Kämpfer in Camouflage. Vor der Kulisse des stalingradhaft zerstörten Flughafens der Stadt kocht er sich eine Suppe. Ich hatte unter anderem Bilder geschickt von einer Party am Strand im Zentrum von Donezk. Studenten tanzen darauf ausgelassen im Sonnenuntergang.
Aufnahmen von Moritz Gathmann aus Donezk: