Ukraine

Wenn der Krieg zur Gewohnheit wird

Im siebten Jahr meines Berufslebens fand ich mich im Krieg wieder. Niemand hatte mich gezwungen, im Frühjahr 2014 in den Osten der Ukraine zu fahren, als die ersten Menschen durch Mörsergranaten starben. Ich wollte hin. Nicht etwa, weil Krieg war. Ich bin keine Kriegsreporterin. Mein Interesse gilt einem Land, nicht etwa einem bestimmten Zustand dieses Landes. Für die Ukraine fühlte ich mich zuständig. Nun war in diesem Land eben Krieg.

           
Alice Bota,
Korrespondentin der Zeit
Foto: Sebastian Bolesch
   

Wer das hohe Pfeifen von Gradraketen hört, die gleich neben einem explodieren; wem der Geruch eines Massengrabes entgegenschlägt; wer mit Soldaten spricht, die zwar am Leben sind, aber kein Gesicht mehr haben; wer die Körper toter Kinder sieht; wem Todesanzeigen Namen verkünden, die er kennt – der erfährt zunächst schmerzhaft viel über sich selbst. Erst mit etwas Abstand wurde mir klar, dass mich diese Erfahrungen auch etwas über den deutschen Journalismus gelehrt haben.


Wir waren nicht vorbereitet

Erstens: Sehr viele von uns waren auf diesen Krieg in Europa nicht vorbereitet. Während des Kosovokriegs griffen deutsche Fotoredaktionen manchmal auf französische oder amerikanische Fotografen zurück, ihre Länder hatten in der jüngsten Geschichte Kriege geführt, damit waren sie oft kriegserfahrener als deutsche Reporter. Für die deutsche Berichterstattung hätte der Kosovokrieg eine Zäsur bedeuten können. Man hätte anfangen können, gezielt Reporter für Kriegssituationen auszubilden, Sicherheitstrainings anzubieten und medizinisches Rüstzeug für den Fall schwerer Verwundung.Tatsächlich hatten einige Reporter, die nun in der Ostukraine unterwegs waren, den Bundeswehrkurs in Hammelburg absolviert.

Aber im besten Fall erschöpft sich damit nicht die Vorbereitung, sie fängt erst an. Verantwortungsvolle Kriegsberichterstattung ist teuer – die Kurse, die Schutzausrüstung, die lokalen Mitarbeiter kosten viel Geld, von Beratungen durch Sicherheitsfirmen, wie sie Reuters oder New York Times beispielsweise haben, ganz zu schweigen. Die Recherchen brauchen Zeit und intensive Betreuung. Kein deutsches Medium schien zu Beginn des Ukrainekrieges auf Berichte von vor Ort verzichten zu wollen – aber waren alle auch wirklich bereit, die Kosten und die Verantwortung dafür zu tragen?

Zweitens: Die Ukraine widerlegte gängige Narrative, aber sie loszulassen fiel schwer. Da waren vornehmlich deutsche Linke, die ihre internationale Solidarität mit Wladimir Putin oder den Separatisten bekundeten, aber geflissentlich ignorierten, dass der Krieg nur durch Waffen aus Russland möglich ist und im Osten der Ukraine Separatisten entführen, foltern und exekutieren. Die Proteste auf dem Maidan war kein von den Amerikanern gekaufter Aufstand, von Rechten ausgeführt, wie manche Online-Kolumnisten nahelegten; es ging aber auch nicht nur um die EU, wie andere meinten. Es ging darum, sich zu erheben gegen die Korruption und Skrupellosigkeit der Machthaber, es ging um die Zukunft der Ukraine. Es gab Rechtsradikale auf dem Maidan; Menschen, die Polizisten töteten – doch die Masse, das waren Verkäuferinnen, Rentner, Ärzte, Studenten, Schwule, die genug hatten.


Die Ukraine-Berichterstattung krankt an Versäumnissen

Drittens: Die Meinungshoheit fiel bedauerlicherweise den Daheimgebliebenen zu. In Deutschland gibt es die anglosächsische Tradition nicht, zwischen Reportern und Kommentatoren zu trennen. Aber auf den Titelseiten deutscher Zeitungen, in den Kommentaren und den Kolumnen waren die Meinungen jener, die vor Ort waren, selten zu lesen. Es macht einen Unterschied, ob man von dort oder über dort schreibt. Wer vor Ort ist, wird vorsichtiger und abwägender, das geht auf Kosten der steilen Thesen. Am stärksten ließ sich die Tendenz in den Fernseh-Talkshows beobachten. In manchen Wochen saßen lauter Experten zusammen und sprachen über den Krieg zwischen Ukraine und Russland, waren aber nie oder schon lange nicht mehr vor Ort gewesen.

Viertens: Die deutsche Ukraine-Berichterstattung krankte nicht an Fehlern, sondern an Versäumnissen. Ich habe faktische Fehler gemacht, so wie andere Journalisten auch, aber diese Fehler waren meistens nicht gravierend. Gravierend war, worüber unzureichend berichtet wurde. Ich habe ausgelassen: die Tragödie in Odessa mit über 40 Toten, fast alle von ihnen prorussisch. Den Mord an dem Journalisten Oles Busyna. Die Repression gegen die Krimtataren nach der Krim-Annexion. Manchmal fehlte es schlichtweg an Kapazitäten, manchmal aber auch an Interesse.


Wann verlieren wir das Interesse an einem Thema?

Die Kritik an der Ukraine-Berichterstattung, von manchen Medienjournalisten fast neurotisch betrieben, war übrigens keine Hilfe, mit der eigenen Fehlerkultur umzugehen, weil sie entweder diffus blieb oder sich an handwerklichen Fehlern abarbeitete, die zwar ärgerlich, aber eben nicht intentional waren. Dabei hätten wir eine Debatte darüber gebraucht, was wir Reporter nicht abbilden und warum nicht. Doch in einer Atmosphäre, in der Reporter als Kriegshetzer, Propagandahuren und Agenten verhöhnt werden, fällt es schwer, laut über die eigenen Schwächen nachzudenken.

In Deutschland wird oft betont, wie wichtig die Pressefreiheit ist. Natürlich ist sie das, der Satz kommt mit einer Konsensgarantie. Doch wer in Deutschland bei einem großen Medium arbeitet, der muss nicht um seine Freiheit bangen. Sicher, es gibt wirtschaftliche Zwänge und es gibt Angriffe von Rechten auf Reporter. Aber körperliche Gefahr ist für die allerwenigsten das Problem. Die größten Schwierigkeiten liegen woanders. Wie sehr bleiben wir an einem Thema dran? Wann verlieren wir das Interesse? Wann fahren wir nicht mehr hin, weil neue Krisen und Kriege die alten, noch immer andauernden, verdrängen? Wann berichten wir nicht, weil es zu aufwändig und zu teuer wird? Wann werden Themen lediglich dazu benutzt, um Narrative zu stützen? Ich kenne die Antworten nicht, aber ich glaube, auch von ihnen hängt ab, wie glaubwürdig wir Journalisten sind.

Nun ließe sich einwenden, dass die Ukraine nicht jeden so brennend interessiert wie eine, die dort um ihr Leben fürchtete. Aber es geht nicht nur um die Ukraine. Es geht darum, wie schnell die Gewöhnung eintritt. Seit zwei Jahren herrscht nunmehr Krieg in der Ukraine, die vereinbarte Waffenruhe hält nicht, gilt aber auch nicht als gescheitert. Ein merkwürdiger Schwebezustand dauert an, und auf einmal schrumpft ein Krieg, der vorher für die großen geopolitischen Fragen stand, wieder zum Regionalkonflikt. Ist es bei anderen Themen anders?

Dieser Text ist dem Kompendium des Verbandes Deutscher Zeitungsverleger 2016 entnommen.

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