RLW #60: Ein #Aufschrei für Ukraine und Russland
Liebe Leserinnen und Leser, wie Sie vielleicht wissen, ist Gewalt gegen Frauen ein großes unterschätztes Problem in Russland, ja im gesamten postsowjetischen Raum - auch sexuelle Gewalt, die meist ungemeldet bleibt. So hat es in Russland laut Kriminalstatistik 1487 Fälle von Vergewaltigung gegeben - angesichts der Zahl von 12.000 Frauen, die in dem Land jährlich allein an den Folgen häuslicher Gewalt sterben, wirkt die Zahl der polizeilich erfassten Vergewaltigungsfälle unrealistisch gering. Zum Vergleich: In Deutschland gab es 2014 mehr als 7000 gemeldete Vergewaltigungsfälle.
„Im postsowjetischen Raum wird der Täter nicht beschuldigt, stattdessen sucht man gleich nach Vorwänden, um das Opfer zu beschuldigen: Was hat die Frau falsch gemacht? Trug sie einen kurzen Rock, war sie spät unterwegs, oder vielleicht betrunken? Die Frau ist schuldig, weil sie als Frau zur Welt gekommen ist.“
So bringt die ukrainische Aktivistin Anastasija Melnitschenko den Konsens unter den Frauenrechtlerinnen in der Ex-UdSSR auf den Punkt. Umso erstaunlicher, dass es Melnitschenko gelang, sexuelle Gewalt zum größten Thema der Woche in den sozialen Netzwerken zu machen. Zu einem Thema, das nun auch in die großen Mainstreammedien rüberschwappt.
Melnitschenko startete mit #яНебоюсьСказати bzw. #яНебоюсьСказать (Russisch bzw. Ukrainisch für „Ich habe keine Angst, es zu sagen“) eine Hashtag-Aktion, die Frauen (und auch einigen wenigen Männern) die Plattform gibt, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Manchmal liegt sie Monate zurück, manchmal Jahren oder sogar Jahrzehnte. Die Geschichten sind, tja, schrecklich, man kann es anders nicht sagen, und neue kommen im Minutentakt dazu.
Natürlich kommt die Aktion nicht ohne Kritiker und Trolle aus, wie beim #Aufschrei damals. Auch in Russland gibt es zur Genüge antifeministische Publizisten. Dennoch: Der Zuspruch für die Aktion ist verblüffend.
Vielleicht ist Russland ja viel weiter als wir dachten? Die Moskauer Frauenrechtlerin Maria Mochowa wagt sich nicht an eine Prognose, dennoch:
„Man muss darüber sprechen, damit die Leute wissen, dass solche Gewalt keine Seltenheit ist, das solche Dinge ganz in der Nähe passieren; dass es ihren Freunden passiert. Die Leute müssen wissen, dass sexuelle Gewalt unzulässig ist, dass man sie bekämpfen muss… Wir müssen lernen, dem Opfer zu vertrauen.“
„Russland letzte Woche“ ist ein eklektischer Rückblick auf die Vorgänge da drüben im Osten, geschrieben von Pavel Lokshin in Kooperation mit n-ost. Für Abonnenten jeden Montagmorgen als Newsletter und auf ostpol.
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