RLW #53: So entsteht eine russische Polit-Talkshow
Liebe Leserinnen und Leser, heute wird „Russland letzte Woche“ ein Jahr alt. Ja, ich musste den Gedanken daran verscheuchen, die ganze Ausgabe der Zukunft Russlands oder ähnlichen Großthemen zu widmen, wie sie hier behandelt wurden, vor allen in der Anfangszeit. Aber Russland glaubt Jahrestagen ebensowenig wie Tränen, deswegen sage ich jetzt schon: Danke für die Aufmerksamkeit, das Lob und die Kritik! Wir machen weiter.
Heute möchte ich ihnen ein anonymes, aber durchaus authentisch wirkendes Ego-Dokument präsentieren, das die Funktionsweise der so genannten politischen Talkshows in Russland (Beispiele: 1, 2, 3) beleuchtet. Während die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender noch versuchen, im Abendfernsehen eine Art Infotainment zu machen, gibt es in Russland schon lange kein Halten mehr: die „politische Talkshow“ ist ein Krawallformat. Es geht nicht um die Erörterung von Argumenten, sondern um Geschrei.
Das bestätigt naturgemäß auch die anonyme Autorin, die als Drehbuchschreiberin bei einem der großen Polit-Talkshowformate arbeitet. Wie funktioniert also der Laden? Der Chefredakteur stimmt mit der Leitung des Senders die Themen ab, überlegt sich die grobe Dramaturgie und gibt den Auftrag einen Drehbuchschreiber weiter. Das Drehbuch, so die anonyme Autorin, sei ein
Puzzle aus Messages und Themen, das von den Redakteuren und den Moderatoren live zusammengebaut wird.
Natürlich sind selbst die bewährtesten Gäste keine Maschinen, der Moderator muss auf alles vorbereitet sein, am Besten mit einer Infografik oder einem Zitat zum Einblenden. Soweit sieht aber ganz branchenüblich aus. Hier fängt das Russische an.
Bei den Gästen nämlich. Wer nicht eingeladen wird:
Nein, es sind nicht etwa Oppositionelle, die zum Sturm des Kremls aufrufen. Das sind einfach völlig zurechnungsfähige Menschen mit einer eisernen Logik, die mit ein paar Sprüchen ihre Opponenten dem Boden gleichmachen können, und zwar so, dass jeder weitere Streit jeden Sinn verliert.
Solche Menschen sind unerwünscht, weil die ideale Sendung so aussieht:
Wenn die Gäste es schaffen, ein paar kluge Gedanken loszuwerden, dabei einander aufs Übelste beschimpfen und zum Schluss fast aufeinander losgehen.
Deswegen sind Oppositionelle per se kein Problem, solange sie nicht der Kategorie der Totschlag-Opponenten fallen. Die größte Sorge der Produzenten sei nicht Ärger mit dem Kreml, sondern mit der idealtypischen Provinz-Oma, die den Kern des Talkshow-Publikums bildet. Ihr werden nämlich
„Emotionen und ein schlichtes Weltbild verkauft“
das sei bessere Medizin als Herzmedikamente. Es heißt: wir gegen sie, und wir werden siegen. Die Beliebtheit der Sendung bei Frauen ab Mitte 50 sei das Gradmaß des Erfolgs. Wer Woche für Woche Sendungen produziert, die nur 5 Prozent der Zuschauer sehen, kriegt seine Show abgesetzt.
Neben den Vertretern der Parteilinie, auch als die „Unsren“ bekannt, ist der “Querläufer“ ein nützlicher und bei den Fernsehleuten beliebter Gast. Er vertritt entgegengesetzte Meinungen und spielt den Prügelknaben. Diese Menschen seien „ihr Gewicht in Gold wert“, schreibt die anonyme Autorin. Sie schreien an gegen die Krim-Annexion, und die Kurilen wollen sie auch lieber gleich an Japan zurückgeben. Dafür werden sie von allen anderen Gästen beschimpft. Nach der Show schütteln alle die Hände und gehen zusammen in die Kantine. Die „Querläufer“ werden für ihren Einsatz fürstlich entlohnt.
So ungefähr funktioniert's, will man dieser Schilderung vertrauen. Ein Zitat der Autorin zum Ausklang:
„Wenn du damit anfängst, diese Realität zu kreieren, sticht schon sehr ins Auge, dass alles rundherum fake ist. Die Abstimmungen sind fake, die Politiker sind fake, die Strategien sind fake, sogar die Feindschaften sind oft fake. Ein riesiges Potemkinsches Dorf.“
In Russland hat man sich schon an Schlimmeres gewöhnt.
Zum Schluss ein paar kleine Meldungen: Einer von Amnesty International in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge ist in „Russland die Abneigung gegen Flüchtlinge besonders hoch“, höher als in allen anderen untersuchten Ländern. Dafür mögen die Russen Enten. Gut, einige von ihnen mögen Enten, wie dieser Verkehrspolizist: Er sperrte eine siebenspurige Straße in Moskau, um eine Entenfamilie in Sicherheit zu bringen (VIDEO). So wie ich Russland kenne, könnte es auch ein Viral aus dem Innenministerium sein… Oder eben doch ein aufrichtig tierlieber Mensch.
„Russland letzte Woche“ ist ein eklektischer Rückblick auf die Vorgänge da drüben im Osten, geschrieben von Pavel Lokshin in Kooperation mit n-ost. Für Abonnenten jeden Montagmorgen als Newsletter und auf ostpol.
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