Russland

Sagt nein zu Barbie!


Unter http://www.miss.rambler.ru/users/severe_girl/MissUniverse2004/ finden Sie Fotos von Aljona Pisklowa.

Moskau (n-ost): Demokratische Experimente erzielen in Russland nicht immer den gewünschten Erfolg. Weltweit laufen zur Zeit die Vorausscheidungen für die diesjährigen Miss-Universe-Wahlen in Ecuador. Das mit der Kür der russischen Kandidatin beauftragte Unternehmen „Rambler“ wollte die Vorauswahl diesmal so volksnah wie möglich gestalten: Alle Russinnen, die sich zur schönsten Frau des Universums berufen fühlten, konnten ihr Bild unter www.miss.rambler.ru positionieren, die Abstimmung erfolgte per Mausklick.

So weit, so gewöhnlich. Bis unter all den ranken, langbeinigen und stark geschminkten Damen plötzlich das Foto einer fünfzehnjährigen Moskauerin auftauchte, die absolut nicht wie eine Miss Universum aussieht: Aljona Pisklowa ist mindestens zehn Zentimeter kleiner und zehn Kilo schwerer als das Gros ihrer Mitbewerberinnen, und während die Maße der übrigen Kandidatinnen nur um wenige Zentimeter vom Barbie-Ideal 90-60-90 abweichen, lautet die Zahlenreihe unter Aljonas Bild: 90-75-100. Um so größer war die Überraschung, als es dem pummeligen Teenager gelang, innerhalb weniger Tage sämtliche Mitbewerinnen aus dem Feld zu schlagen. Allein am ersten Tag der Ausscheidung votierten über 10.000 Russen für die unorthodoxe Kandidatin, im Halbfinale lag sie mit uneinholbarem Stimmenvorsprung auf dem ersten Platz.

Was war geschehen? Eine spontan gegründete Bewegung namens „Sag Nein zu Barbie“ hat Aljona zu ihrer Gallionsfigur erkoren und aus den Miss-Wahlen im Handumdrehen ein Forum für globalisierungskritische Inhalte gemacht. Aljona, so heißt es auf www.stopbarbie.org.ru, der hastig zusammengezimmerten Internet-Seite der Bewegung, stehe für ein neues Selbstbewusstsein gegenüber dem Schönheitsterror internationaler Konzerne. Wer für Aljona sei, der sei gegen standardisierte Körpermaße, gegen geheucheltes Kameralächeln, gegen billige Pop-Musik und besinnungslosen Konsum, gegen entkoffeinierten Kaffee und Zigaretten ohne Nikotin. Und wer gegen Barbie sei, der sei für Individualität und den Glauben an die eigene Besonderheit. Innerhalb kürzester Zeit erreichte die Bewegung einen Zulauf, von dem politische Parteien in Russland nur träumen können: Fast 40.000 Menschen votierten im Laufe der Vorausscheidung für Aljona, die meisten vergaben die Höchstwertung von fünf Punkten.

Doch wie meistens, wenn sich in Russland der Bürgersinn allzu kapriziös gebärdet, machte auch diesmal eine Anweisung von oben dem Spuk ein Ende: Kurz vor dem Finale wurde Aljona disqualifiziert, vorgeblich wegen ihres zu geringen Alters. Aus den Kreisen der Wahlveranstalter verlautete jedoch, der amerikanische Miss-Universe-Konzern „Firebird Productions“ habe seinen russischen Partner unter Druck gesetzt. Offenbar hatte dort die Vorstellung, dass ein kleines, dickes Mädchen die alljährliche Körperschau desavouieren könne, milde Panik ausgelöst.

Zur Besänftigung der Fans wurde der unliebsamen Bewerberin immerhin noch eine Art Publikumspreis verliehen. Aljona selbst, deren Foto von einer Freundin ins Internet gestellt worden war, sieht die ganze Affäre eher gelassen: Sie freue sich über die enorme Unterstützung, sagte sie in einem Interview mit den Betreibern des Anti-Barbie-Forums, aber in erster Linie liege ihr zur Zeit ihr Schulabschluss am Herzen. Zwar erklärte sie sich bereit, ihr Konterfei für ein Protest-T-Shirt im Che-Guevara-Stil herzugeben, den Zielen der Globalisierungsgegner scheint sich die Moskauerin jedoch nur bedingt verpflichtet zu fühlen: Nach ihren Wünschen befragt, ließ sie sich von der Miss-Universe-Kommission ausgerechnet einen CD-Player mit Karaoke-Funktion schenken.

Iwan Sasurskij, der Vorsitzende der russischen Auswahlkommission, hat nun in einem offenen Brief an die Anti-Barbie-Gemeinde um Verständnis geworben. Darin fordert er die Aktivisten auf, die Miss-Universe-Wahl auch nach Aljonas Ausscheiden nicht völlig zu ignorieren: Bestimmt fände sich auch unter den übrigen Kandidatinnen „ein Mädchen mit eigenen Meinungen und ungewöhnlicher Schönheit“. Damit wird er bei den Barbie-Gegnern auf wenig Gegenliebe stoßen: Diese haben inzwischen angekündigt, auch nach Aljonas unfairem Rausschmiss weiter gegen den Barbie-Terror ankämpfen zu wollen. Wenn sie es ernst meinen, wäre damit Russlands erste ernstzunehmende Bürgerbewegung geboren.

ENDE 

Jens Mühling


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