Russland

Verstrahlte Heimat

„Ein Unfall hat sich vor drei Tagen im Atomkraftwerk Tschernobyl ereignet.“ Durch diese kurze Meldung in den Abendnachrichten im April 1986 hörte Sergej Sisow zum ersten Mal von der Reaktorkatastrophe.

Am nächsten Tag rüstete der Dozent an der Pädagogischen Hochschule in der russischen Kleinstadt Nowosybkow seine Studenten mit Geigerzählern aus. Zur Überraschung aller hätten sich die Zeiger der Messgeräte wie wild überschlagen, erinnert sich der kleine, energische Mann mit ergrauten Schläfen.

Starke Winde und ein heftiger Wolkenbruch hatten den radioaktiven Niederschlag am Vortag bereits aus dem 180 Kilometer entfernten AKW nach Nordosten geweht und über Nowosybkow verteilt. Wenn sich Sisow heute eines der alten Geräte vor die Brust hängt und mit dessen Zählrohr über Rasen und Asphalt vor dem rotbraunen Schulgebäude fährt, bleibt der alte Geigerzähler stumm. Dagegen piept ein modernes Gerät an derselben Stelle immer noch heftig. Auch 30 Jahre nach der Katastrophe ist das Schulgelände immer noch radioaktiv kontaminiert.


Die Behörden evakuierten kaum jemanden

Mit seinen goldenen Kirchenkuppeln und einstöckigen Holzhäusern unterscheidet sich das rund 40.000 Einwohner zählende Nowosybkow kaum von anderen russischen Provinzstädten. Während der ersten warmen Apriltage putzt sich die Stadt für die Maifeiertage heraus. Die Bewohner pflanzen frische Blumen, der Geruch von Farbe liegt in der Luft. Auf Kaminen und Telegraphenmasten nisten Störche.

In dieser Idylle mutet es fast unwirklich an, dass Nowosybkow und die Umgebung zu den am schlimmsten von der Reaktorkatastrophe betroffenen Gebieten in Russland gehören. Auch wenn die Strahlenbelastung seit damals zurückgegangen ist, leben heute immer noch 330.000 Menschen auf verschmutztem Gebiet. Zwar wurden 1986 besonders kontaminierte Gegenden zu sogenannten „Umsiedlungszonen“ erklärt. Tatsächlich ließen die sowjetischen Behörden aber kaum jemanden evakuieren.


Der Staat kürzt die Leistungen für die „Umsiedlungszone“

Wovor die Regierung damals die Augen verschloss, hat heute gravierende Folgen für die Bevölkerung. In vielen Familien häufen sich Krebserkrankungen. Kinder sind oft krank, ihr Immunsystem ist durch die Radioaktivität geschwächt. „Etwa ein Drittel meiner Patienten haben Beschwerden, die auf Tschernobyl zurückzuführen sind“, sagt Viktor Chanajew, Chirurg im Krankenhaus von Nowosybkow.

Wer in der „Umsiedlungszone“ wohnt, hatte bislang Anrecht auf Ergänzungsleistungen vom Staat: Kostenlose Medikamente, Extra-Urlaubstage, sowie jeden Monat eine finanzielle Kompensation, zählt der Chirurg auf. Im Oktober 2015 verabschiedete Moskau allerdings ein neues Dekret, das die Zahl der von Tschernobyl betroffenen Siedlungen reduziert. Nowosybkow wurde von der „Umsiedlungszone“ in eine sogenannte „Zone mit Recht auf Umsiedlung“ herabgestuft. Deswegen bekommen die Bewohner jetzt weniger Geld. Grund hierfür seien die erfolgreichen Schutz- und Rehabilitationsmaßnahmen, die seit 1986 ergriffen wurden, so behauptet es die Regierung. Unabhängige Experten, wie die Umweltorganisation Greenpeace, bezweifeln dies.

Oksana Inaschewskaja von der Selbsthilfeorganisation „Mütter von Nowosybkow“ vermutet hinter dem neuen Gesetz dagegen die prekäre Wirtschaftslage Russlands. Der Staat müsse sparen. Viele Einwohner fühlen sich von Moskau im Stich gelassen. Nach der Reaktorkatastrophe wurden örtliche Unternehmen verlegt. Niemand will in der verstrahlten Zone investieren. Hier Arbeit zu finden ist kaum möglich. „Deswegen ist das zusätzliche Geld für uns so wichtig“, sagt Inaschewskaja.


Viele Bewohner sind zurückgekehrt

Ohnehin zweifeln viele an der Begründung aus Moskau. „Mir hat nie jemand einen Beweis dafür gezeigt, dass es bei uns nun sauberer ist“, sagt Natalia Kundik, Bibliothekarin im Dorf Stare Bobowitschi, nordwestlich von Nowosybkow. Nur 500 Rubel, umgerechnet 6,70 Euro zahlt ihnen der Staat im Monat. Schon vor der Kürzung war das Geld knapp, als es noch 13 Euro gab.

Deshalb sind viele auf Subsistenzwirtschaft angewiesen. Trotz der kontaminierten Böden picken vor praktisch jedem Haus Hühner im Gras, viele Bewohner halten sich Kaninchen oder Schweine, jagen im Wald oder sammeln Beeren und Pilze. Dabei ist allein der Birkensaft, der hier eingefangen wird, gefährlich. Im Wald, neben einem hölzernen, türkisen Picknicktisch mit Bänken, hängen Schilder mit Strahlenwarnzeichen.

Hinter dem Wald, nahe der belarussischen Grenze, liegt Swjatsk. Überwucherte Hügel links und rechts der Straße und einige wenige Ruinen sind alles, was heute von der einst blühenden Siedlung noch zu sehen ist. „Es war ein schönes Dorf“, bedauert Viktor Streljukow. Wie die restlichen Bewohner zogen auch seine Eltern in den Jahren nach dem Unfall sukzessive weg. In der Fremde hielten sie es jedoch nicht lange aus und kehrten wieder nach Nowosybkow zurück.


„Klar essen wir Beeren und Pilze“

Viktors Eltern sind beide auf dem Friedhof von Swjatsk beerdigt. Hier lebten viele russisch-orthodoxe Altgläubige, die nach wie vor an einer alte Form der Liturgie festhalten. Zu hohen Feiertagen, etwa neun Tage nach Ostern, versammeln sich jedes Jahr rund 300 Personen in Swjatsk, um ihrer Toten zu gedenken. In den Ruinen der abgebrannten Kirche hat Streljukow dafür eine kleine Holzkapelle errichtet.

Angst um seine Gesundheit hat der Mechaniker in seiner Heimat aber nicht. Das gilt auch für Alexej und Mascha. „Klar gehen wir in den Wald, sammeln und essen Beeren und Pilze“, sagt Alexej. Allerdings nicht ungewaschen und roh. So könne man die Strahlenbelastung verringern, ergänzt Mascha.

Die beiden Studenten stehen vor der Pädagogischen Hochschule in Nowosybkow. Tschernobyl sei für sie nach wie vor relevant. Aber: Wer hier lebt, hat sich längst an die Radioaktivität gewöhnt.


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