Noch halten die Alten durch
Danzig (n-ost). Die kleine Bibliothek der Deutschen Minderheit in Danzig mistet dieser Tage aus. Alle Kinderbücher werden aus den Regalen geräumt. „Hier gibt es keine Kinder mehr“, meint die 65-jährige Bibliothekarin resigniert und stapelt die Bücher im Flur. Über ihnen befindet sich das Schwarze Brett mit den aktuellen Aushängen: Das Deutsche Rote Kreuz bietet seine Hilfe bei der Suche nach verschollenen Angehörigen an und beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge gibt es die Gräbersuche nun auch online. Viel Geschichte, aber wenig Zukunft – so könnte man die Lage der Deutschen Minderheit in Danzig schnell zusammenfassen.
Der Eindruck ist nicht falsch. 6000 Menschen in der ganzen Wojwodschaft Pomorze vertritt der Bund der Deutschen Minderheit Danzig. Sechs kleinere Außenstellen gibt es. In Danzig allein sollen es knapp 1900 Mitglieder sein. Etwa 90 Prozent der Aktiven wurden vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges geboren. Die biologische Uhr tickt bedrohlich. Doch wer an Mittwochnachmittagen bei der Minderheit vorbeischaut, könnte das vergessen. Von Resignation keine Spur. Über 40 alte Danziger treffen sich hier zum Reden, Singen, Feiern und Tanzen. Es geht so lebendig zu wie auf einer Studenten-Party. Die Tischorgel wird angeworfen, das Lied vom „Treuen Husaren“ angestimmt, es wird geschunkelt, gelacht und im Danziger Dialekt geschnackt.
Maria Ciezkowska ist die Älteste. Sie wurde am Neujahrstag 1916 in Danzig-Brösen geboren. Wie die meisten hier kann sie Geschichten erzählen, die von Krieg, Verlust und schwierigen Neuanfängen handeln: „Weil die Eltern damals alt und krank waren, sind wir 1945 nicht nach Westen abgeschoben worden. Unsere Wohnung wurde besetzt, wir haben alles verloren. Ich konnte kein Wort Polnisch und Deutsch durften wir nur noch leise sprechen.“ In einer Pelzfabrik hat sie sich zur Meisterin hochgearbeitet, außerdem zog sie drei Kinder groß, arrangierte sich. Wie die meisten hier, hat sie längst Frieden geschlossen, mit sich, mit der Vergangenheit und mit den Polen.
Geholfen hat dabei der 15. März 1990. An diesem Tag wurden die Deutschen in Polen erstmals als Minderheit anerkannt. Hunderttausende von Biographien, die im Kommunismus schlichtweg ignoriert wurden, tauchten aus der Dunkelheit auf. Nach den Ergebnissen der Volkszählung aus dem Jahr 2003 sind noch 330 000 Menschen der deutschen Minderheit zuzurechnen. 20 000 geben Deutsch als ihre Muttersprache an. Die Hauptstadt der Deutschen ist, wenn man so will, Oppeln (Opole) in Schlesien. Dort erscheint auch das deutschsprachige Schlesische Wochenblatt. Es gibt Radiosender und sogar deutsche Bürgermeister. Größere Aktivitäten finden zudem im Raum Allenstein (Olsztyn) in Masuren statt. Danzig kann da nicht mithalten.
Immerhin entsendet das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) eine Kulturassistentin in die alte Hansestadt an der Mottlau, die Kulturveranstaltungen und Sprachkurse für die Minderheit und interessierte Polen organisiert. Zudem kommen rund 17 000 Euro aus den Töpfen des deutschen Innenministeriums in Danzig an. Das reicht für ein kleines Zentrum im Danziger Stadtteil Wrzeszcz. Langfuhr hieß das früher. Ein paar Ecken weiter ist Günter Grass aufgewachsen. Ein kleiner Blechtrommler ist hier literarisch durch die Straßen gestreunt. Nun hat er als Denkmal auf einer Bank Platz genommen und erinnert an den Nobelpreisträger.
„In diesem Moment ist das Verhältnis zu den Polen sehr gut“, betont Paul Sabiniarz, der Vorsitzende der Deutschen Minderheit in Danzig. Der Stadtpräsident käme regelmäßig zur Weihnachtsfeier. Gemeinsam habe man ein Denkmal errichtet, das an 17 nach dem Krieg eingeebnete deutsche Friedhöfe erinnere. Die Stadt, die 700 Jahre lang von Deutschen geprägt wurde und in der noch 1945 über 400 000 Deutsche lebten, sei inzwischen stolz auf ihre Geschichte. Dass die Deutschen in Polen schwere Zeiten zu überstehen hatten, dafür findet Sabiniarz Verständnis: „Über sieben Millionen Polen sind im Krieg oder im KZ durch Deutsche getötet worden. Die Verfolgungen nach `45 kann man verstehen.“ Auch die polnische Angst vor einem „Zentrum gegen Vertreibungen“ sei erklärbar. „Frau Steinbach will ein internationales Zentrum, aber wenn man das in Berlin macht, hat das doch einen nationalen Hintergrund. In Polen hat man nicht zu Unrecht Angst, dass die Vertreibungen höher gestellt werden, als das an den Polen begangene Leid.“ Erika Steinbach wurde 1943 in Rahmel (Rumia) unweit von Danzig als Tochter eines deutschen Besatzungsoffiziers geboren, der dort kurz vorher stationiert worden war. Trotz mehrfacher Einladungen durch die Minderheit fand sie noch keine Zeit für einen Besuch.
Sabiniarz selbst stammt aus der Nähe von Bromberg (Bydgoszcz). Früher hat er als Schiffsbauingenieur auf der Danziger Werft gearbeitet. „Wenn man fleißig war und Polnisch lernte, konnte man auch als Deutscher gute Positionen erreichen.“ 1970 war der heute 74-Jährige als Abteilungsleiter der Werft an den Unruhen gegen den Kommunismus beteiligt, als vor dem Werfttor 21 streikende Arbeiter erschossen wurden. Später fuhr er auf einem deutschen Schiff zur See. Seine Mutter war Deutsche, sein Vater hatte einen polnischen Pass. Im Grunde habe sich hier Jahrhunderte lang vieles vermischt. Deutsche, Kaschuben, Polen. „Wir sind die vorweggenommene Europäische Union“, lacht Sabiniarz.
Ob die Deutschen in Danzig überleben werde? Der Jugendclub der Minderheit zählt zehn bis 15 Aktive. „Viel zu wenig“, ist auch dem Vorsitzenden klar. Und die mittlere Generation der nach dem Krieg Geborenen sei fast komplett nach Deutschland ausgewandert. „Wir hoffen, dass der Eintritt Polens in die EU vielleicht deutsche Unternehmer nach Danzig lockt und dass sich dann ein Teil hier niederlässt“, erklärt Sabiniarz. Genau so habe schließlich vor 1000 Jahren die Ansiedlung Deutscher im Osten angefangen.
Bis es so weit ist, müssen die Alten durchhalten. Und wenn man der 88-Jährigen Maria Ciezkowska beim Feiern zusieht, ihre Geschichten hört und von ihr erfährt, dass sie bis heute allein ihre Kohlen schleppt, dann ahnt man, dass es irgendwie doch immer weiter geht.
Ende