Die Kinder von Idomeni
Vian steht in einer langen Schlange im Grenzort Idomeni. Das 12-jährige Mädchen aus dem Irak wartet geduldig mit anderen erwachsenen Flüchtlingen, um ein belegtes Brot und Kekse zu bekommen. „Wir haben so viel Hunger hier, und am Abend kann man vor Kälte nicht schlafen“, sagt sie. An ihrem Körper kann man die Strapazen des mehrtägigen Aufenthalts in dieser riesigen provisorischen Zeltstadt erkennen. Auf ihren Wangen sind Kratzer, die Haare sind zerwühlt, die Klamotten voller Schlamm.
„Schukran“, bedankt sich Vian auf Arabisch, als sie an die Reihe kommt. Ein paar Meter weiter steht Zivara, ein kleiner Junge aus Syrien, vor einem Zelt. „Meine Eltern haben mir versprochen, dass sie mich an einen sicheren Ort führen, in ein großes Haus mit vielen Spielzeugen“, sagt er. Das gibt ihm wohl Kraft, die erbärmlichen Zustände im Lager auszuhalten.
Immer wieder sieht man Kinder, die im Abwasser der Sanitäranlagen spielen, bei Minusgraden unter freiem Himmel schlafen, erschöpft an den Bahngleisen des Grenzübergangs warten oder Holzstücke sammeln, um mit ihren Eltern improvisierte Feuer vor den Zelten anzulegen. Am Abend hört man immer wieder Schreie aus den Zelten.
Allein auf der Flucht
Laut UN-Flüchtlingsrat sind mehr als 34 Prozent der Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, Kinder. Unter den rund 14.000 Flüchtlingen, die im Grenzort Idomeni ausharren, in der Hoffnung, dass die Grenze öffnet, ist die Hälfte unter 18 Jahre alt, so aktuelle Schätzungen. Die Bilder der erschöpften Kinder von Idomeni gehen um die Welt. Doch ob sich die internationale Gemeinschaft über das Schicksal dieser Kinder tatsächlich Gedanken macht?
Monika Prifti berät in ihrem kleinen Büro in einem Container im Zeltlager einen 17-jährigen Minderjährigen aus Syrien, der allein auf der Flucht ist. Sie ist Soziologin in einem Programm der Organisationen Arsis und Save the Children. Der Junge schaut zurückhaltend. Er will anonym bleiben, um seine Eltern in Syrien zu schützen.
Seit zwei Wochen ist er hier an der Grenze. Sein Ziel ist Deutschland. Er versucht, seine Tränen zurückzuhalten, als er anfängt zu erzählen, wieso er in Griechenland steckengeblieben ist. „Ich bin mit meinen Onkel und seiner Familie bis Idomeni gekommen. Als wir versuchten, die Grenze zu überqueren, hat mein Onkel den Grenzpolizisten gesagt, dass er mich nicht kennt. Sie sind durchgekommen, ich nicht.“
Tief traumatisiert
Die Hilfsorganisationen versuchen, unbegleitete Minderjährige in geeigneten Unterkünften unterzubringen. Diese sind jedoch überfüllt. Oft müssen die jungen Flüchtlinge tagelang in Zellen von Polizeistationen warten, bis ein Platz frei wird – im Rahmen der sogenannten Schutzhaft. Im Normalfall darf ein unbegleiteter Minderjähriger in Griechenland bis zu drei Tage in Schutzhaft bleiben, bis der nötige bürokratische Prozess abgeschlossen ist. „Wir haben Fälle von Kindern, die mehr als zwei Wochen in den Zellen warten mussten, was sie seelisch sehr belastet”, sagt Prifti.
Die Kinder von Idomeni sind bereits von der Flucht aus der Heimat bis nach Griechenland tief traumatisiert, erklärt Prifti. Sie verarbeiten ihre Erlebnisse in Zeichnungen, die in einem speziell für Kinder eingerichteten Containerraum der beiden Hilfsorganisationen hängen. Man sieht Bilder mit Wellen, Schwimmwesten, Booten. Auf einer Zeichnung ist eine Axt neben einer verschleierten Frau zu sehen. Sozialarbeiter und Psychologen helfen den Kindern, ihre Gefühle auf dem Papier auszudrücken.
„Manche Mütter erklären uns, dass die Kinder die Flucht als ein Abenteuer erleben, als ein riesiges Spiel. Sie leben sich hier aus, weil sie in ihrer Heimat nicht mal die Chance hatten zu spielen“, sagt Prifti. Viele der Eltern sind erschöpft. Immer wieder sieht man Kleine, die im Lager alleine herumlaufen und sich in der riesigen Menge verlieren. An mehreren Stellen des Lagers stehen Schilder mit Warnungen an die Eltern: Sie sollen auf die Arme ihrer Kinder einen Namen oder eine Telefonnummer schreiben, um das Wiederfinden zu erleichtern.
Am Montag wurde ein 13-Jähriger aus Syrien schwer verletzt, als er über ein Kabel eines stehengebliebenen Zugs stürzte und einen Stromschlag erlitt. Täglich werden Kinder mit Atemproblemen oder schweren Erkältungen im Krankenhaus der Region behandelt.
Auf einem Feld in der Nähe treten spanische Clowns der Gruppe Pallasos en Rebeldia auf. Mit arabischen Sätzen und Pantomime versuchen sie die jungen Flüchtlinge zum Lachen zu bringen. Auch ein Freilichtkino mit Zeichentrickfilmen haben Aktivisten in Idomeni organisiert. Clown Ivan Prado war schon in mehreren Krisenregionen der Welt. „Die Kinder verstehen nicht, was hier passiert und warum es passiert“, sagt Prado. „Aber in ihrem Herzen ist ein kleiner Funken Hoffnung. Wir versuchen, diesen kleinen Funken zu erhalten.“