Slowenien

Ein idealer Nährboden für die Angst

OriginalDeutsch

Aus dem Slowenischen von Veronika Wengert, n-ost

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Im vergangenen Winter herrschten im Großteil Sloweniens ideale Bedingungen für die Angst. Ich vermute, dass die Bedingungen für solch eine Angst anderswo in Europa in den letzten Monaten wahrscheinlich ebenso günstig waren, vermutlich allerdings nirgendwo so ideal, wie bei uns.

Ich erinnere mich noch gut an jenen Wintermorgen, als mir das schlagartig bewusst wurde. An jenem Morgen bin ich früh aufgewacht, habe mir einen Tee gekocht und mich im Pyjama auf die Couch gesetzt. Draußen schneite es. Im Radio begannen gerade die Morgennachrichten. Eine angenehme Stimme verlas die Neuigkeit, dass am Vortag 6.000 Flüchtlinge die slowenisch-kroatische Grenze überquert hatten und dass seit Beginn der Flüchtlingskrise bereits mehr als 200.000 Menschen nach Slowenien eingereist sind.

Aus irgendeinem Grund dachte ich, wie unheimlich diese Nachricht wohl für jemanden klingen muss, der dazu neigt, Angst vor etwas anderem, Unbekanntem zu haben. Für einen Menschen, der besorgt Artikel über eine zur Gewalt neigende islamische Kultur liest, über die gescheiterte Integration der europäischen Muslime und einer sich daraus ergebenden Radikalisierung, über das herablassende Verhalten der Muslime gegenüber Frauen, über die Islamisierung Europas, über den IS. Dieser Mensch hat gerade gehört, dass mehr als 200.000 Muslime in sein Land eingereist sind, dachte ich. Für einen Staat mit zwei Millionen Einwohnern ist das eine erschreckend hohe Zahl.


Die Ruhe als Illusion

Ich schaute aus dem Fenster. Die Stadt wirkte verlassen, wie jeden Samstag. Kaum ein Auto, kaum ein Fußgänger war zu sehen. Der Sprecher im Radio las inzwischen die Nachricht vor, dass die slowenische Armee an der Grenze zu Kroatien begonnen hatte, einen Stacheldrahtzaun zu errichten.

Ich schaute noch einmal auf die Straße, diesmal mit den Augen eines verängstigten Mannes. Die Ruhe dieses Samstagmorgens war nur eine Illusion. 200.000 Muslime sind bereits eingereist und wir können nur rätseln, wie viele noch kommen werden. Einen Stacheldrahtzaun baust du nicht ohne Grund, und die Regierung weiß wahrscheinlich, wovor sie uns auf solch eine radikale Weise schützen möchte.
Im Kopf des verängstigten Mannes kreisten Bilder einer Gefahr, die sich von der mazedonisch-griechischen Grenze, aus den Belgrader Parkanlagen und dem Budapester Hauptbahnhof annäherte. Eine ausgehungerte Menschenmenge, die durchgefroren und hungrig war, verschmolz in seinem Kopf zu einer Masse an Fremden. Zu einer Menschenmenge von Muslimen.

In Slowenien gibt es keine Moscheen. Und auch keine Muslime. Beziehungsweise – sie sind nicht sichtbar. Bis gestern wussten wir nicht einmal, welchen Glauben die Bosnier und Albaner in unserem Land haben. In Ljubljana gibt es ein libanesisches Restaurant und einen palästinensischen Fast Food-Imbiss sowie einige Araber, die bereits vor Jahrzehnten hierher gekommen waren. Burkas kann man gelegentlich nur an Touristen aus den Golfstaaten entdecken.

Viele Menschen in Slowenien haben sich daher erst nach den Ereignissen von Paris und Köln ein Bild über die Muslime geschaffen, aufgrund von Klatsch in sozialen Netzwerken über muslimische Viertel in europäischen Städten, aufgrund von Statistiken über die gestiegene Zahl von Vergewaltigungen in Schweden, aufgrund inoffizieller Informationen über Gewalt in Asylantenheimen.

Ich ging auf die Straße hinunter. Der verängstigte Mann in mir konnte nicht anders, als auf dem Weg zum Hauptplatz nervös um sich zu schauen. Er sah, dass es hier überhaupt niemanden gab, dass der Flüchtlingsweg durch Slowenien fernab von Ljubljana verlief, dass diese Menschen überhaupt nicht die Absicht hatten, bei uns zu bleiben, sondern weiter nach Österreich oder Deutschland wollten – aber dennoch schaute er sich nach ihnen um.


Wir fürchten Frauen mit Burkas, die es bei uns nicht gibt

Österreich hatte angekündigt, dass man die Grenzen für alle schließen werde, die nicht vor dem Krieg auf der Flucht waren. Die Menschen aus Bangladesch, Afghanistan, Pakistan, Marokko, Ägypten und Algerien werden also in Slowenien bleiben. Zu Tausenden werden sie dann durch die Stadt spazieren, die Tische in den Restaurants belegen, in langen Schlangen für Gemüse anstehen. Sie werden in Gruppen umherlaufen und in der Mehrzahl sein. Niemand wird sie jemals wieder verbannen können.

Als ich die Trubar-Straße in Richtung Prešenen-Platz hinunterging, traf ich auf die ersten morgendlichen Spaziergänger. Hier und da war ein italienischer Tourist darunter, die übrigen Passanten stammten aus Ljubljana und waren auf dem Weg zum Wochenmarkt. Mütter mit Kindern und ältere Damen mit Einkaufstrolleys. Alles war genau so, wie es letzten, vorletzten und überhaupt an jedem anderen Samstag zuvor gewesen war.

Doch der verängstigte Mann in mir wurde ganz starr vor Angst, denn alles war ganz anders, da ja 200.000 Muslime in unser Land eingereist sind, die nun da waren und die wir lediglich nicht sehen konnten. Davor ängstigen wir uns alle am meisten. Wir fürchten jene Frauen mit Burkas, die es nicht gibt. Wir fürchten die Bomben, die es nicht gibt. Wir fürchten jene Menschen mit Steinen in den Händen, die es nicht gibt.

Vor jenen Menschen, die es nicht gibt, fürchten wir uns zu Tode, da wir vermuten, dass sie da sind. Das haben wir zumindest gehört, gelesen und schließlich haben wir auch die entsprechenden Bilder im Fernsehen gesehen. Wir wissen, dass sie irgendwo hier sind. Und dass es in Asien und Afrika noch einige Millionen, oder gar Milliarden von Menschen gibt, die gerne zu uns kommen würden. Die zu uns kommen werden.


Die Angst ist unser größter Feind

Die Flüchtlingskrise hat, mehr noch als die Finanzkrise, einen Kontrast unserer Wirklichkeit geschaffen, die wir alltäglich auf den Straßen unserer Städte, in den Medien und in den sozialen Netzwerken wahrnehmen. Dieser Kontrast ruft Angst hervor. Die Bedrohung, die wir lediglich vermuten, ist jedoch weitaus schlimmer als jene, die wir tatsächlich erleben. Dabei kann die Mehrzahl der Europäer, vor allem im Osten, über die Muslime und die mit ihnen verbundenen Schwierigkeiten nur mutmaßen.

Stacheldrahtzäune, die Schließung innereuropäischer Grenzen, die Einführung von Tagesquoten, die Zahlung von Milliardenbeträgen an die Türkei und andere panische Lösungen, die keine sind, schüren dabei nur ihre Mutmaßungen. All das erzählt uns nämlich von einer Angst, die sich in Europa ausgebreitet hat – wobei man sich nicht bewusst ist, dass gerade die Angst der größte Feind ist. Die Flüchtlinge können das vereinte Europa nicht gefährden, wohl aber die Angst – diese kann es angreifen.

Die ersten Flüchtlinge habe ich vor wenigen Tagen in einem örtlichen Park in Ljubljana gesehen. Ich habe sofort erkannt, dass es welche waren. Sie waren anders als gewöhnliche Spaziergänger. Sie saßen auf den Parkbänken, wie wir im Wartezimmer beim Arzt sitzen. Sie waren sichtlich abgespannt, allerdings wirkten sie nicht so ermüdet wie atemlose Jogger, die sich hier manchmal ausruhen. Ihre Müdigkeit erinnerte vielmehr an die Müdigkeit alter Menschen, die hier Vögel und Eichhörnchen füttern - wobei sie noch sehr jung waren.

Ich habe diese fünf Flüchtlinge beobachtet, und der verängstigte Mann in mir hat sich beruhigt. Sie machten einen friedlichen Eindruck, außerdem gab es im Park mehr von uns als welche von ihnen. Die Angst unterscheidet immer zwischen „uns“ und „ihnen“, sie legt die Machtverhältnisse fest. Die Flüchtlinge waren nicht allzu dunkel, vielmehr sahen sie wie einige unserer eigenen Südländer aus. Sie waren auch ähnlich angezogen wie wir.

Für einen Augenblick konnte ich nur schwer verstehen, warum die Menschen solch eine Angst vor ihnen hatten, dass sie sogar Protestmärsche gegen sie organisieren. Wenn du dich jemandem so weit annäherst, dass du ihm in die Augen schauen kannst, siehst du den Menschen. Sobald du dich jedoch hinter der ersten Ecke versteckst, sind sie wieder da: Die Bilder, die Stacheldrahtzäune und die Zahlen. Jetzt sind es bereits mehr als 400.000.


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