Ukraine

Beleidigt dieser Mann den Maidan?

Zum zweiten Jahrestag der Maidan-Revolution wühlt ein Interview die ukrainische Öffentlichkeit auf: Der Maidan-Aktivist Iwan Bubentschik erklärt darin, wie er am Morgen des 20. Februar 2014 mit seinen Schüssen eine Eskalation in Gang setzte, die an diesem Tag zum Tod dutzender Maidan-Aktivisten führte – und kurz darauf zum Rücktritt des Präsidenten Wiktor Janukowitsch.

Im Interview mit Iwan Sijak, einem Journalisten des Online-Magazins „Bird in Flight“, berichtet der heute 46-Jährige detailreich, wie er an jenem Morgen mit einem Kalaschnikow-Gewehr aus dem Konservatorium am Rande des Maidans auf die Polizisten schoss. Zunächst habe er mit gezielten Schüssen zwei Kommandeure getötet. Danach verließ er das Gebäude, lief hinter der Verteidigungslinie der Maidan-Aktivisten entlang und schoss von dort auf die Reihen der Polizisten, „um den Eindruck zu erwecken, dass wir 20 oder 40 Maschinengewehre haben.“

Das Interview bestätigt Recherchen des „Spiegel“ und der „BBC“ aus dem vergangenen Jahr. Darin wurde nachgewiesen, dass an jenem Morgen bewaffnete Maidan-Aktivisten mit Jagdgewehren und Kalaschnikows aus dem Konservatorium am Rande des Platzes auf die Polizisten geschossen hatten. Die Schüsse bewirkten den panischen Rückzug der Einheiten vom Maidan. Hunderte Maidan-Aktivisten setzten ihnen nach, wurden jedoch auf dem Weg zum Präsidentenpalast von Scharfschützen empfangen. 48 Menschen starben, hunderte wurden verletzt.


Gespaltene Reaktionen

An der Erzählung des 46-Jährigen gibt es kaum Zweifel. Von seinen Taten während der Revolution hatte er schon im November 2014 einem Lemberger Fernsehsender berichtet. Der aus Lemberg stammende Ukrainer war Ende der 1980er Jahre in der Roten Armee ausgebildet worden, auf dem Maidan war er seit den ersten Tagen in einer „Selbstverteidigungseinheit“ aktiv. Nach der Flucht von Janukowitsch ging er als Freiwilliger in den Osten der Ukraine, um gegen die Separatisten zu kämpfen. Im vergangenen November wurde er dort Kommandeur eines nationalistischen Freiwilligenbataillons.

In der ukrainischen Bevölkerung traf Bubentschiks Erzählung jedoch einen empfindlichen Nerv. Begeisterung rief sie bei jenen Ukrainern hervor, welche die Maidan-Revolution schon immer als Fehler betrachtet hatten: Für sie bestätigt sich damit das Bild eines illegitimen, bewaffneten Aufstands. Eine eher radikale Minderheit begrüßte das Interview: Für sie ist Bubentschik ein Held, der mit seinen Taten den Sieg des Maidans ermöglichte. Der ehemalige Parlamentsabgeordnete Wiktor Ukolow nannte Bubentschik einen „Helden der Ukraine“, der ins Parlament gehöre.

Die große Mehrheit jedoch zeigt sich empört und zweifelt die Echtheit des Interviews an: „Sie sahen das Interview als Beleidigung des idealisierten Maidans“, erklärt Journalist Sijak. Besonders laut wurde kritisiert, dass die Tat von Bubentschik aus dem Zusammenhang gerissen worden sei. Dabei wird in der Einführung des Artikels deutlich erklärt, wie verzweifelt die Lage am Morgen des 20. Februar war: „Nach schweren zweitägigen Straßenkämpfen, bei denen 31 Aktivisten und 8 Polizisten getötet wurden, hatte die Polizei das Territorium der Demonstranten bedeutend verkleinert und Stellungen auf dem Maidan-Platz besetzt.“


Brüche in der Erzählung

Sijak bekam per Facebook wüste Beschimpfungen zu lesen wurde als prorussischer Propagandist beschimpft – weil er mit dem Interview dem Feind helfe. Der Grund für die emotionale Reaktion ist der Mythos der „Himmlischen Hundertschaft“: So haben die Ukrainer die über hundert getöteten Maidan-Aktivisten getauft. Bis heute stehen ihre Porträts am Maidan. Dass auch Aktivisten bewaffnet waren und ihre Schusswaffen gegen die Polizisten einsetzten, passt nicht in das Bild des heldenhaften, friedlichen Widerstands. Die 17 getöteten Polizisten und Soldaten haben in der kollektiven Erinnerung der Ukrainer indessen keinen Platz.

Dass Iwan Bubentschik für seine Taten zur Verantwortung gezogen wird, ist unwahrscheinlich. Ein Amnestie-Gesetz, das das Parlament am 21. Februar 2014 annahm, schließt Tötungsdelikte gegen Polizisten ein. Die strafrechtliche Verfolgung der Polizisten ist dagegen zwei Jahre später in Bewegung gekommen: Die Staatsanwaltschaft hat dem Gericht im Februar die Anklageschriften gegen fünf Mitglieder der Spezialeinheit „Berkut“ übergeben. Weitere 21 sind geflohen, die meisten von ihnen nach Russland.

Zwei zum Jahrestag veröffentlichte ukrainische Filme beschäftigen sich jedoch eingehend mit den Vorfällen des 20. Februars: „Branzi“des Dokumentarfilmers Volodymyr Tykhyy und „Zlam“ von Anastassija Stanko. Beide Filme präsentieren eine Schlüsselfigur für die Ereignisse: Iwan Bubentschik.


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Quellen:

http://www.dekoder.org/de/article/ich-habe-sie-im-genick-getroffen

https://www.youtube.com/watch?v=ooFvNeBeOlw&feature=youtu.be&t=487


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