Zwei Jahre Maidan: Offene Wunden

Mit seinen 34 Jahren ist Igor Tschernezkij ein gezeichneter Mann. Er geht am Krückstock und hat den Status eines Kriegsinvaliden. Verletzt wurde er nicht im Krieg in der Ostukraine, sondern auf dem Maidan.
In der Nacht auf den 19. Februar 2014 stürmte Tschernezkij mit anderen Maidan-Aktivisten eine Blockade nahe des Kiewer Unabhängigkeitsplatzes. Männer in Zivilkleidung – so genannte „Tituschki“ – hatten den Weg für Rettungswagen abgeschnitten, die die Verletzten vom Maidan versorgen sollten, erzählt Tschernezkij. Eine Kugel traf ihn am Bein und durchbohrte seinen Oberschenkel.
Eine Hölle aus Feuer
Viele Maidan-Aktivisten traf es noch schlimmer. Die ukrainische Hauptstadt verwandelte sich in diesen Tagen in eine Hölle aus Feuer, brennenden Autoreifen und Blut. Als die Gewalt eskalierte, starben 102 Demonstranten, aber auch 13 Polizisten kamen am Maidan ums Leben. Die Flucht des Präsidenten Viktor Janukowitsch in der Nacht auf den 22. Februar 2014 setzte den Ausschreitungen ein Ende.
Als sich der Rauch verzogen hatte, lautete eine der lautesten Forderungen der Maidan-Aktivisten, das Blutbad jener Tage aufzuklären. Auch Tschernezkijs Verfahren wurde im Juli 2015 eröffnet. Immer wieder werden die Verhandlungen verschoben, noch kein einziges Verhör hat stattgefunden. Bei Tschernezkij hat sich Misstrauen angesammelt: Immerhin sei der Richter schon zu Zeiten der „Revolution der Würde“, wie der Maidan unter seinen Anhängern genannt wird, Richter gewesen – und hätte somit womöglich Maidan-Aktivisten verurteilt. „Das ist doch absurd!“, sagt Tschernezkij.
Zuletzt hagelte es auch internationale Kritik. Die ukrainischen Behörden würden die Ermittlungen verschleppen und durch eine „nicht kooperative Haltung“ erschweren, urteilte der Europarat in einem Bericht im März 2015. „Zu viele Leute aus dem alten System sind in die Untersuchungen eingebunden“, sagt Pawel Dykan, der die Angehörigen der Maidan-Opfer als Anwalt vertritt. Amtsträger im Innenministerium, in der Staatsanwaltschaft und bei den Gerichten würden die Aufklärung blockieren.
Der politische Wille fehlt
Gleichzeitig fehle es an Personal: In einer Sondereinheit, die die Gewalt am Maidan aufklären soll, würden überhaupt nur 18 Ermittler arbeiten. „Selbst unter normalen Umständen dauern solche Untersuchungen Jahre. Andere Verbrechen – wie der Blutsonntag in Irland – wurden erst Jahrzehnte später aufgeklärt.“ Dykan macht auch das Fehlen von technischen Ressourcen für den schleppenden Ablauf verantwortlich: „Sie haben nicht einmal Computer oder eigene Server.“
Andere machen die Führung direkt verantwortlich. „Wenn ich mich in die Rolle des Präsidenten versetze und sage: Das ist das wichtigste Ereignis in der Unabhängigkeit der Ukraine – dann sehe ich keinen politischen Willen, das aufzuklären“, sagt Oleksandra Matwijtschuk von der Hilfsorganisation Euromaidan SOS. Fast ein Jahr lang hatte es zudem keine koordinierte Untersuchung der Verbrechen gegeben. Erst auf den Druck der Aktivisten wurde eine Sonderermittlung eingerichtet. „Wir haben fast ein Jahr verloren“, so Matwijtschuk.
Der Umfang der Untersuchungen ist freilich immens. Mehr als 1.000 Verletzte wurden registriert – in der Zeit von Ende November, als die ersten Studenten für die Unterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens demonstrierten bis zu den blutigen Tagen Ende Februar. Es wurden auch viele Beweise vernichtet, sagt Dykan.
Russische Propaganda
Rund um den Jahrestag bemühen sich die Behörden allerdings um Aufklärung. Zuletzt gab die Generalstaatsanwaltschaft bekannt, dass ihnen die Namen von 25 Personen bekannt seien, die am 20. Februar auf Aktivisten geschossen haben. „Das Hauptproblem der Ermittlungen ist aber, dass die meisten Akteure in dieser Sache nicht mehr auf dem Territorium der Ukraine sind“, sagt Wladimir Fesenko, Direktor am politischen Institut Penta. Es wird vermutet, dass Ex-Präsident Janukowitsch sowie hochrangige Vertreter der Sicherheitskräfte für die Befehlskette verantwortlich sind. Beweise gibt es dazu nicht.
Einen Skandal gab es indes um einen beschuldigten Polizisten der Sondereinheit Berkut: Dieser stand bereits unter Hausarrest und musste sich einem Gerichtsverfahren stellen, konnte aber dennoch aus dem Land fliehen. Auf Druck der Sicherheitskräfte, mutmaßen Beobachter.
Dass es kaum Aufklärung gibt, hat auch Verschwörungstheorien angeheizt. Die russische Propaganda hatte den Maidan als einen faschistischen Putsch dargestellt. „Gerade in diesem Informationskrieg lässt sich nur durch eine unabhängige Untersuchung ein Schlussstrich ziehen“, ist sich NGO-Mitarbeiterin Matwijtschuk sicher. Die Aufklärung könnte ein Zeichen setzen, „dass sich in unserem Staat nicht nur die Gesichter geändert haben, sondern auch das System“, sagt der Anwalt Dykan.
Quellen:
Persönliche Gespräche in Kiew
Europarat-Bericht:
http://www.coe.int/de/web/portal/international-advisory-panel
Euromaidan SOS:
https://www.facebook.com/EvromaidanSOS/
Flucht des Berkut-Polizisten:
http://www.reuters.com/article/us-ukraine-killings-probe-special-report-idUSKCN0HZ0UH20141010?irpc=932