„Ich träume von einer solidarischen Gesellschaft“
n-ost: Seit Monaten tobt in Polen ein Streit über die Rolle des Verfassungsgerichts. Sie sind seit der Wahl im Herbst Alterspräsident des Sejm und haben dort, im Parlament, gesagt: „Das Wohl des Volkes steht über dem Recht.“ Wie haben Sie das gemeint?
Morawiecki: Das Recht ist eine wichtige Sache, aber es ist nicht heilig. Es muss dem Wohl des Volkes dienen. Das Wohlergehen der Menschen ist mehr wert als die Buchstaben irgendeines Gesetzes oder das Urteil irgendeines Gerichts.
Öffnet das nicht dem Machtmissbrauch Tür und Tor? Wer entscheidet denn, was das Wohl des Volkes ist?
Morawiecki: Darüber lässt sich natürlich streiten, aber es gibt Situationen, in denen offensichtlich ist, dass das Volk leidet. Ich habe lange gegen den Kommunismus gekämpft, der auch seine Rechtsprechung hatte. Das Volk hat trotzdem gelitten! Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will nicht an der europäischen Tradition der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative rütteln, aber es darf keine Situation geben, in der aus einem Rechtsstaat ein Richterstaat wird, in dem allein Juristen das Sagen haben und jene, die hinter ihnen stehen.
Diese Gefahr sehen Sie in Polen?
Morawiecki: Es gab in der Vergangenheit sehr bizarre Urteile des Verfassungsgerichts. Zum Beispiel haben die Richter die gesetzlichen Grundlagen für Zwangsvollstreckungen durch Banken zunächst abgelehnt, später aber für rechtmäßig erklärt. Warum? Es gab Druck aus der Politik und der Finanzwirtschaft.
Die neue polnische Regierung hat die Staatsmedien unter ihre Kontrolle gestellt. Welche Rolle spielen freie Medien für Sie?
Morawiecki: Wann sind Medien frei? Die Macht des Großkapitals wächst. Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt mehr als der Rest der Menschheit! Und das Geld regiert nicht nur die Welt, sondern diktiert seine Meinung auch den Medien. Journalisten sind von jenen abhängig, die sie finanzieren, die genug Geld haben, um die Gesellschaft zu korrumpieren. Diese Situation ist nicht viel anders als die Lage im Kommunismus. Uns droht eine Diktatur des Kapitals.
Können denn Medien, die von der Regierung gelenkt werden, die Lösung sein?
Morawiecki: Die polnischen Regierungen der vergangenen acht Jahre unter Donald Tusk und Ewa Kopacz waren Regierungen im Dienst der Finanzwelt und der Wirtschaft. Sie haben paradiesische Zustände für die Reichen geschaffen. Das ist im Westen nicht wahrgenommen worden. Dort hat man nur unsere Erfolge gesehen. Ja, wir hatten ein hohes Wirtschaftswachstum, aber das kam nur den oberen Schichten zugute. Etwa zwei Millionen junge, gut ausgebildete Polen haben ihre Heimat verlassen, weil sie hier keine Zukunft für sich gesehen haben. Ich habe die Hoffnung, dass sich das unter der neuen PiS-Regierung ändert, so dass mehr gesellschaftliche Gleichheit und Solidarität möglich werden.
Warum haben Sie persönlich trotzdem nicht für die PiS kandidiert?
Morawiecki: Mit gefällt die Sprache des Hasses nicht, die das Verhältnis zwischen den großen politischen Lagern in Polen prägt.
Sie haben einst gegen die Kommunisten gekämpft. Sagen Sie jetzt dem Kapitalismus den Kampf an?
Morawiecki: In gewisser Weise ja. Jedenfalls brauchen wir eine andere Form des Kapitalismus. Die Migrationsströme, mit denen wir es heute zu tun haben, sind doch nicht nur ein Resultat von Krieg und Gewalt, sondern auch das Ergebnis von ökonomischer Unterdrückung weltweit. Ich habe immer von einer solidarischen Gesellschaft geträumt. Von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind wir aber heute weiter entfernt denn je.
Zum Interview mit Mateusz Kijowski: