Gefährliches Patt
„Nieder mit den Oligarchen!“, steht auf Transparenten. Sprechchöre an die Adresse der Regierung und ihrer Parlamentsmehrheit ertönen: „Euer Platz ist im Gefängnis!“ Redner prangern die ausufernde Korruption im Land an, die Plünderung der Staatsvemögens und den „Milliardenraub“ aus Banken. Die Zuhörer pfeifen empört.
Massenproteste in Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau: Seit Mitte letzter Woche sind fast täglich tausende oder sogar zehntausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen eine neue Regierung zu demonstrieren – die mittlerweile sechste binnen eines Jahres in dem krisengeschüttelten und mit Abstand ärmsten Land Europas. Am vergangenen Mittwoch kam es dabei zu schweren Ausschreitungen: Nach einer Kundgebung stürmten mehrere hundert Demonstranten das Parlamentsgebäude. Die Abgeordneten wurden von Einsatzpolizisten evakuiert, doch den Eindringlingen gelang es, Büros zu verwüsten.
Es geht nicht um pro- oder anti-EU
Szenen, die der Auftakt zu neuen gewalttätigen Protesten sein könnten wie vor sieben Jahren, als eine Studentenbewegung die damaligen kommunistischen Machthaber aus dem Amt jagte. Diesmal geht es in der kleinen Ex-Sowjetrepublik, die früher einmal Teil Großrumäniens war und dann von Stalin annektiert wurde, nicht gegen kommunistische Machthaber, sondern gegen eine so genannte „proeuropäische“ Regierungskoalition. Sie regiert in verschiedenen Zusammensetzungen seit den Protesten von 2009. Der neue Regierungschef heißt Pavel Filip und war Technologieminister der vorherigen Interimsregierung. Er führt eine Koalition aus 57 Abgeordneten an, die teils den bisherigen liberal-demokratischen Regierungsparteien, teils der sozialistisch-prorussischen Opposition angehören.
Proeuropäisch ist an dieser Regierung ebensowenig wie an den meisten ihrer Vorgängerinnen. Zwar schloss Moldau im Juni 2014 ein Assoziierungsabkommen mit der EU und sollte zum Musterland ihrer Östlichen Partnerschaftspolitik aufgebaut werden. Doch vor allem die in den letzten beiden Jahren amtierenden Regierungen unternahmen praktisch nichts gegen Korruption und organisierte Kriminalität.
Als Strippenzieher und graue Eminenz im Land gilt der Geschäftsmann und Oligarch Vlad Plahotniuc, der unter anderem Bankenbeteiligungen, zahlreiche Immobilien und ein Medienimperium besitzt. Ihm wird nachgesagt, die Justiz- und Sicherheitsorgane des Landes weitgehend zu kontrollieren. Plahotniuc soll ein großen Teil seines Vermögen durch so genannte Raider-Attacken gemacht haben – widerrechtliche Immobilien- und Firmenübernahmen, die nachträglich von korrupten Richtern legalisiert werden.
"Milliardenraub" führte Land in Krise
Kurz vor den Wahlen im November 2014 verschwanden aus moldauischen Banken rund 700 Millionen Dollar, später stellte sich heraus, dass im Laufe einiger Jahre rund 1,3 Milliarden Dollar entwendet worden waren – Verbleib unbekannt. Auch dahinter wird Plahotniuc vermutet. Ein Untersuchungsbericht der internationalen Audit-Firma Kroll vom Frühjahr letzten Jahres ergab, dass das Geld über komplizierte Darlehenskonstruktionen mit Off-Shore-Firmen über lettische Banken verschwand – mutmaßlich in Russland.
Als der „Milliardenraub“ Ende 2014 ans Licht kam, führte das zur tiefsten Krise in der Republik Moldau seit ihrer Unabhängigkeit 1991 – immerhin entspricht die Summe rund einem Sechstel des Bruttosozialproduktes von 2014. Drei der wichtigsten Banken wurden unter Staatsaufsicht gestellt, um einen Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern. Zwei gewählte und drei Interims-Regierungschefs verwalteten den Stillstand.
Dabei bedarf die Republik Moldau eines radikalen Politikwechsels und dringender Reformen wie kaum ein anderes Land Europas. In dem agrarisch geprägten Land herrscht krasse Armut. Viele der dreieinhalb Millionen Einwohner können nur durch Arbeit im Ausland überleben, ihre Transfers machen einen beträchtlichen Teil des moldauischen Bruttosozialproduktes aus. Zudem ist das Land gespalten: Im östlichen Landesteil, genannt Transnistrien, herrschen seit 1990 moskautreue Separatisten, und dort ist auch die 14. russische Armee samt eines riesigen Waffenarsenals stationiert. 1992 kam es zu einem kurzen, blutigen Bürgerkrieg im Land. Seitdem herrscht ein Waffenstillstand, der jederzeit wieder in Krieg münden könnte. Unter anderem, weil Russland trotz eines bindenden OSZE-Abkommens von 1999 seine Truppen und Waffen nicht abzieht.
Auch prorussische Parteien springen auf den Zug auf
Gegen die korrupten und perspektivlosen Verhältnisse formierte sich letztes Jahr unter dem Namen „Bürgerplattform `Würde und Wahrheit´“ (PDA) eine machtvolle Protestbewegung, die bei Demonstrantionen in den letzten Monaten jeweils bis zu 100.000 Menschen auf die Straße brachte. Vergebens: Alle Versuche, eine Reformregierung durchzusetzen, scheiterten am Widerstand des Oligarchen Plahotniuc und der von ihm kontrollierten politischen Kräfte. Er setzte auch seinen Parteifreund Pavel Filip als neuen Regierungschef durch. Filip gilt als seine Marionette und steht selbst unter Korruptionsverdacht.
Zugleich mit der „Bürgerplattform `Würde und Wahrheit´“ (PDA) erstarkten im Land auch prorussische Parteien, die vor allem die ethnischen Minderheiten im Land, darunter Russen und Ukrainer, repräsentieren. Diese Parteien – die Sozialisten (PSRM) und die Partei des Politabenteurers Renato Usatii, der als Bürgermeister von Balti, der zweitgrößten moldauischen Stadt, amtiert – treten für eine engere Anlehnung an Russland und gegen den europäischen Integrationskurs ein.
Eigentlich haben die proeuropäische Bürgerplattform DA und die beiden prorussischen Oppositionsparteien entgegensetzte Orientierungen – doch derzeit protestieren sie gemeinsam. Ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist die Forderung nach vorgezogenen Wahlen. Doch die würden die gegenwärtigen Machthaber haushoch verlieren – einige der gegenwärtigen Regierungsparteien haben nicht einmal die Chance auf einen Wiedereinzug ins Parlament. So herrscht im Land ein politisches Patt zwischen einer praktisch illegitimen Regierung und einer machtvollen, heterogenen Protestbewegung, die derzeit den größten Teil der moldauischen Bevölkerung repräsentiert.
Ein gefährliches Patt
Es ist ein gefährliches Patt an der Außengrenze der EU und an der Schnittstelle zwischen euroatlantischer und russischer Einflusssphäre. Manche Beobachter sehen bereits ein ukrainisches Szenario der Republik Moldau heraufziehen. Nicht unbegründet, denn Moskau ist politisch und wirtschaftlich seit einem Vierteljahrhundert der stärkste Entscheidungsfaktor in Moldau. Gegen die europäische Integration Moldaus hat Russland scharf protestiert und verhängte zeitweise Importbeschränkungen. Der russische Präsident Wladimir Putin verfolge die Situation im Land aufmerksam und im Detail, ließ der Kreml letzte Woche ausrichten. Aus Moldaus Nachbarland Rumänien wiederum mehren sich die Rufe nach einer Wiedervereinigung.
So gerät die Republik Moldau – wie schon so oft in ihrer kurzen Geschichte als unabhängiger Staat – wieder einmal zwischen die geopolitischen Fronten. Mircea Snegur, der erste Staatspräsident des Landes, beklagte es vor mehr als zwei Jahrzehnten mit den Worten: „Leider waren und sind wir ein Spielball zwischen den Imperien.“
Quellen:
- laufende Berichterstattung der moldauischen Medien
- eigene Gespräche und Interviews mit Politikern und Bürgeraktivisten, darunter Andrei Nastase, Mitbegründer der „Bürgerplattform `Würde und Wahrheit´“
- investigative Recherche zu Unregelmäßigkeiten und falschen Angaben in der Vermögenserklärung des Regierungschefs Pavel Filip: http://www.zdg.md/editia-print/investigatii/foto-integritate-pavel-filip-candidatul-majoritatii-la-functia-de-premier-nu-si-declara-casa-de-milioane-in-care-locuieste