Rote Eier für Tiberius
Von Veronika Wengert
Moskau (n-ost) Gesegnetes süßes Osterbrot und Wodka auf dem Friedhof sind ein Zeichen für die Verschmelzung von christlichen und weltlichen Ostertraditionen in Russland: Am 11. April feiert die orthodoxe Kirche in der ganzen Welt die Auferstehung Christi, auf Russisch heißt der höchste kirchliche Feiertag „Pascha“ (sprich Pas-cha). Das Datum des orthodoxen Osterfestes ist an den darauf folgenden Sonntag nach dem ersten Halbmond im Frühling gekoppelt und variiert daher von Jahr zu Jahr.
Ihre letzte Wurst habe sie in der „Butterwoche“, der Masleniza gegessen, mit der in Russland traditionell der Winter ausgetrieben wird, erzählt Valentina Smirnowa. Seit gut sechs Wochen fastet die 57-jährige Rentnerin und bereitet sich so auf das Osterfest vor. Noch strikter achtet die Moskauerin in der Passionswoche, die noch bis Karsamstag dauert, auf ihre Ernährung: Erbsensuppe und Kartoffeln ohne Fett stünden dann auf ihrem Speiseplan, so die ehrenamtlichen Kirchenhelferin.
Am Nachmittag des Karsamstags bringt Valentina Smirnowa gewöhnlich einen Osterkorb mit Speisen zur Segnung in die Kirche: Ein Priester weiht die mitgebrachten Osterbrote, Bonbons und Eier. In vielen Kirchen findet am frühen Samstagabend ein Gottesdienst statt, in dem die 28 Kapitel der Apostelgeschichte gelesen werden. Der eigentliche Festtags- Gottesdienst beginnt um Mitternacht, wenn die Osterkerzen angezündet werden. In den meisten Kirchen ist es schwierig, dann überhaupt noch einen Stehplatz zu bekommen, Sitzbänke gibt es nicht. „Christus ist auferstanden!“ („Christos voskresse!), hallt die frohe Botschaft durch den Raum. Schließlich beginnt eine Prozession um das Gotteshaus, angeführt von Geistlichen und Messdienern. Nach der mehrstündigen Liturgie, die nicht selten bis vier Uhr morgens dauert, beglückwünschen sich die Kirchengänger fröhlich und schenken sich oft Eier als Symbol des Glücks.
Die Passionszeit ist nach dem heiligen Messe in der Nacht zum 11. April zu Ende, danach darf wieder geschlemmt werden. Viele Gläubige treffen sich im Anschluss an die Liturgie zum gemeinsamen Frühstück. Meist bringt jeder eine Speise mit: Hering mit Roter Beete, Russischer Salat, Kartoffeln, Fleisch, Wurst, Käse und selbst gebackene Kuchen bedecken die Tafel in vielen russischen Haushalten. Getrunken wird Kungur, süffiger roter Dessertwein.
Nicht fehlen dürfen beim Frühstück die drei typischen Speisen des orthodoxen Osterfestes: Der Kulitsch, das zylinderförmige Osterbrot aus Hefeteig, das mit Zuckerguss und bunten Liebesperlen verziert ist, und Pascha, der Osterkuchen in Pyramidenform, aus gepresstem Quark hergestellt. Auch Hühner- oder Gänseeier gehören traditionell dazu. Meist wurden sie mit Schalottenschalen rot gefärbt. Eine Legende besagt die Symbolik der roten Farbe: So soll Maria Magdalena, die am Ostermorgen das leere Grab entdeckte, dem römischen Imperator Tiberius das erste Osterei beschert haben. Der Herrscher zweifelte jedoch an ihren Worten, dass ein Mensch auferstehen könne. Eher würde sich ein weißes Ei rot verfärben, spottete er. Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, wechselte das Hühnerei der Maria Magdalena seine Farbe. Seither gelten rote Ostereier unter Gläubigen als Symbol für die Auferstehung Christi, erklärt Valentina Smirnowa.
Beim Osterfrühstück ist unbedingt eine strenge Reihenfolge einzuhalten: Zuerst müsse jeder ein Stück vom Kulitsch und von der Pascha-Torte essen, dann ein Ei und erst im Anschluss daran die übrigen Speisen, sagt die gläubige Rentnerin. Auch sie färbt jedes Jahr Eier und backt gemeinsam mit ihrer Nichte einen Kulitsch, nach altem Zarenrezept. Fünfzehn Eigelb brauche sie dafür, verrät sie.
Nach dem Osterfrühstück erwarten die Gläubigen dann gemeinsam den Sonnenaufgang: Es heißt, dass die Sonne mit ihren Strahlen spiele. Nur an diesem Tag sei es möglich, direkt in das helle Licht zu schauen, so die landläufige Meinung.
Am Sonntagvormittag gehen viele Familien dann gemeinsam auf den Friedhof, um ihren Verstorbenen Eier und Kuchen aufs Grab zu legen. Nicht selten wird auch ein Glas Wodka auf die Toten getrunken. Friedhöfe gleichen an diesem Tag oft Parks: Man trifft sich, isst und trinkt gemeinsam. Valentina Smirowna wird am Sonntag nicht auf den Friedhof gehen. „Dieser Brauch hat mit der orthodoxen Kirchentradition nichts zu tun“, erklärt sie. Zu Sowjetzeiten sei dies jedoch die Alternative zum Kirchengang gewesen, so die Rentnerin.
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Veronika Wengert