Russland

Die Soldatenmutter von Sankt Petersburg

In der Küche der Organisation „Soldatenmütter von Sankt Petersburg“ gibt es Tee, Schokolade und getrocknete Früchte. „Alles, was wir hier haben, haben wir selbst von Zuhause mitgebracht“, sagt Ella Poljakowa. Die 74-jährige strahlt Ruhe aus, ein elegantes grün-braunes Tuch liegt auf ihren Schultern, um den Hals trägt sie eine dünne Goldkette mit einem Kreuz. Man würde diese Frau auf Mitte 50 schätzen, wüsste man es nicht besser. 

Ella Poljakowa, früher Ingenieurin, leitet seit mehr als zwanzig Jahren die Organisation, die sich für die Rechte von Wehrpflichtigen einsetzt. Ihr Team unterstützt Soldaten, die in der Armee Gewalt erfahren haben. Dabei geht es vor allem um Rechtsberatung. Doch Poljakowa kann auch Geschichten darüber erzählen, wie ihre Leute verprügelte Rekruten versteckt haben. „Wir helfen, wo wir können,“ sagt sie.
Während der Kriege in Tschetschenien in den Neunziger Jahren half Poljakowa bei der Abwicklung des Gefangenenaustausches und leitete die Aktion, bei der dutzende russische Mütter Richtung Grosny aufbrachen, um ihre Söhne zu holen. Nachdem die „Soldatenmütter von Sankt Petersburg“ im August 2014 den Tod russischer Soldaten im ukrainischen Donbass bestätigt hatten, wurde die Organisation von der Regierung auf die Liste „ausländischer Agenten“ gesetzt. Danach erschien eine kontroverse Reportage beim Kreml-nahen „NTV“-Sender: Sie suggerierte, die „Soldatenmütter“ würden mit ausländischem Geld die russische Armee unterwandern wollen. 

Seit 2012 wird jede gemeinnützige Organisation in Russland als „ausländischer Agent“ registriert, die Gelder aus dem Ausland bekommt und eine „politische Tätigkeit“ ausübt. Sie muss sich in allen Publikationen deutlich als „ausländischer Agent“ kennzeichnen, sowie alle drei Monate über ihre Tätigkeiten Bericht erstatten. Wer sich weigert, wird angeklagt und muss Strafen zahlen – umgerechnet 4.000 bis 7.000 Euro. Hinzu kommen Anklagen gegen die Direktoren der NGO. 


Runter von der „Agenten-Liste“

Zwar wurden die „Soldatenmütter von Sankt Petersburg“ im Oktober 2015 wieder von der „Agenten-Liste“ gestrichen, aber die Nachwirkungen dieser Maßnahme sind für die NGO weiterhin spürbar. „ Es gibt genug Leute, die uns wieder auf dieser Liste sehen wollen. Deswegen können wir jetzt nur auf staatliche Gelder oder Spenden aus dem Inland hoffen“, sagt Poljakowa. „Ich kann nicht einmal das Preisgeld vom Hessischen Friedenspreis für die Organisation verwenden.“ Im Sommer war sie für ihr „mutiges Engagement gegen menschenunwürdige Verhältnisse in den russischen Streitkräften“ mit dem mit 25.000 Euro dotierten Preis ausgezeichnet worden. 

Die vergangenen sechs Monate überlebten die „Soldatenmütter“ ohne Finanzierung. Ab dem 1. Januar erhalten sie für die nächsten neun Monate 2,7 Millionen Rubel – umgerechnet 35.000 Euro – aus Steuergeldern. Ein Paradox? Nicht für Poljakowa. „Die Machthaber verstehen, dass wir trotzdem weiter machen werden, also tun sie so, als würden sie mit uns kooperieren“, sagt sie.

Wenn Poljakowa auf die vergangenen zwei Jahre zu sprechen kommt, seufzt sie tief. „Ich war früher immer gegen die Wehrpflicht und für die Berufsarmee. Wenn ich jetzt zuschaue, wie viel Übel man mit Berufssoldaten anrichten kann, fehlen mir die Worte.“ Poljakowa verurteilt Russlands Ambitionen in der Ukraine und in Syrien scharf. Besonders beunruhigend sei, wie sich die russische Gesellschaft derzeit verändert. „Alle Bereiche des Lebens werden militarisiert – die Schulen, die Medien, schließlich das Bewusstsein der Menschen. Die Propaganda wirkt“, ist sich Poljakowa sicher. 

Immer weniger Soldaten und deren Angehörige ersuchten die Hilfe ihrer Organisation. Ans Aufhören denkt Poljakowa dennoch nicht. „Die Menschen behaupten zwar, hinter Putin zu stehen“, sagt sie, „doch wenn ihnen Unrecht widerfährt, kommen sie zu uns.“ Russlands Operation in Syrien hat gerade erst begonnen. Ella Poljakowa macht eine nachdenkliche Pause. „Die grausame Logik ist leider: Der Widerstand wächst erst, wenn auch die Anzahl der Särge wächst.“


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