Rumänien

Von alten Fischern und Baba Rada

Den ersten Teil der Reihe finden Sie hier.

Den dritten Teil können Sie hier lesen.

C.A. Rosetti

Ich sitze auf der offenen Ladefläche eines kleinen Lastwagens, der im Sommer dazu eingesetzt wird, Touristen und Vogelbeobachter im Schritttempo durch das Delta zu fahren. Jetzt scheint es der Fahrer eilig zu haben, ungeachtet des schlechten Zustands der Straße. Ich bin froh, als wir in C.A. Rosetti sind. Der Ort ist so etwas wie das Zentrum für die kleineren Siedlungen der Stadt. Die Ladenbesitzerin sehen wir schon von weitem, wie sie im Morgenmantel der wartenden Kundschaft die Tür aufschließt.

Endlich ein heißer Kaffee und zum Frühstück ein eingeschweißtes 7-Days-Croissant, das mir als Delikatesse angeboten wird. Das Gebäck schmeckt nach Karton und ist kostet trotzdem so viel wie ein ganzes Kotelettstück vom Schwein. Hier im Laden trifft sich im Laufe des Morgens das ganze Dorf. Heute gibt es frisches Brot, die Kartoffeln sind ausverkauft, die restlichen Rüben vertrocknet.

Sfistofca

Am Nachmittag fahre ich nach Sfistofca und treffe Petrica. Er sieht aus, wie ich mir einen orthodoxen Mönch vorgestellt habe. Er ist der Epitrop der Kirche, eine Art Kämmerer und Messdiener. Er lädt mich ein, die Kirche des Ortes zu besichtigen. Ich soll lieber keine Bilder machen, nicht dass die Welt sieht, was hier für Schätze lagern. Petrica spricht am liebsten über die Darstellung des Jüngsten Gerichts im Eingangsraum, direkt neben der Ikone des Heiligen Nikolaus, Patron der Seeleute. Er gluckst vergnügt, als er mir erklärt, dass ich hier vier reich gekleidete Kirchenfürsten sehe, die mit einer dicken Eisenkette vor dem Rachen eines Dämons stehen. In der Mitte des Bildes feilscht der Erzengel Michael mit Satan um die Seelen auf einer Waage, im unteren Teil sind eindringliche Darstellungen von Menschen, die für verschiedene Sünden büßen: aneinander gekettet, kopfüber aufgehängt, mit Spießen von kleinen Teufelchen in den Flammen gehalten. Mord, übermäßiges Trinken, Unzucht, Abtreibung, Hexerei und Faulheit werden hier bestraft. Für selbstlose Menschen, die anderen helfen, davon ist Petrica überzeugt, wirft der Erzengel Michael aber immer ein Extrapfund in die Seelenwaage.

Faulheit ist keine Sünde, über die sich die Bäuerin Victoria Sorgen machen müsste. Ihr Gehöft liegt etwas außerhalb von Sfistofca. Sie lehnt erschöpft an der Koppel ihres Stalles, mit 125 Rindern hat sie den größten Betrieb der Insel. Was zuerst nach etwas Wohlstand klingt, ist am Ende doch vor allem elende Plackerei. Die Arbeit ist hart, ein Sohn hilft, die Tochter arbeitet im Haus, der Mann ist krank. 60 der 125 Kühe verkauft sie als Fleischkühe für umgerechnet jeweils etwa 100 Euro. Viel bleibt davon nicht übrig, als Weidefläche für die Tiere muss Victoria zusätzliches Land anmieten, in besonders arbeitsintensiven Wochen Tagelöhner beschäftigen, um die Ernte rechtzeitig einzubringen. Am Sonntag soll ich wiederkommen. Dann wird geschlachtet.

Fischfang

Fischer Costa und Mihai, alias „Susana“ wollen heute mit mir auf die Lagune fahren, um zu fischen. Als ich am Morgen zu ihnen komme, sind sie bereits mit den Vorbereitungen beschäftigt. Costa zeigt Mihai, wie er die Zugleine des „prostovol“ richtig anbringen muss. Das „prostovol“ ist ein rundes Netz mit Senkbleien an den Enden. Es wird in einer Drehbewegung vom Boot ins Wasser geworfen und senkt sich dann wie ein Schirm über den Fang. Mit leichtem Ziehen am Seil versuchen die Fischer, die Falle unter Wasser so behutsam wie möglich zu schließen, um die Fische im Netz zu halten.

Costa und Mihai sind nervös, ziehen hastig an ihren Zigaretten. Gestern und vorgestern haben sie nichts gefangen, die Fischsuppe vor zwei Tagen war die letzte warme Mahlzeit, Geld für Bier und Brot ist auch keins mehr da.

Costa hat Schmerzen in den Lendenwirbeln und bindet sich eine Bandage um Bauch und Rücken. Sie schultern einen Benzinkanister und den Eimer mit dem Netz und gehen zu ihrem Boot. Sie fischen schwarz und ich muss ihnen immer wieder versichern, dass ich während des Auswerfens ihre Gesichter nicht zeigen darf. Der Gebrauch des Wurfnetzes ist Fischern vorbehalten, die mit Lizenz arbeiten.

Die Fischbestände sind in den letzten Jahren stark gesunken, klagt Costa, vor allem wegen anderer Wilderer, die mit Autobatterien fischen und mit der korrupten Polizei unter einer Decke stecken. Früher war es besser. Costa ist Sohn, Enkel und Urenkel von Fischern, er selbst arbeitete noch in den 1980er Jahren in einer großen Fischereikooperative. Allein in Sulina waren 12 Brigaden mit je 50 Fischern im Einsatz. Die Fangmengen waren enorm. Verdient haben sie auch nicht schlecht, umgerechnet fast 500 Euro im Monat, sagt Costa, das hätte für ein gutes Leben gereicht. 1993 schloss die Kooperative, die Geschäfte waren leer, das Fernsehprogramm auf zwei Stunden täglich reduziert, was Costa besonders betont. Der Fischfang wurde „privatisiert“, Mafias machten sich breit. Die teuren Lizenzen kann sich heute kaum jemand leisten.

„Damals war ich jung, und sie war schön“

Costa hat noch die Pension seines blinden Vaters. Dieser lebt mit ihm in der Hütte, wird von Costa gefüttert und gewickelt. Costas Frau lebt schon lange in Italien, sein Sohn arbeitet in Constanta als Elektromechaniker und schickt manchmal etwas Geld. Sie sehen sich selten, telefonieren aber.

Der alte Außenbordmotor stottert, Mihai entwirrt das Netz, steckt sich eine der Bleikugeln in den Mund und starrt aufs Wasser. Nur ein paar kleine Flusskrebse bleiben am Ende des Nachmittags. Sie versuchen es noch in zwei anderen Kanälen, aber nach drei Stunden ist Mihai erschöpft. Sie diskutieren, ob sie weitermachen oder nicht, streiten jetzt über alles, sogar darüber, wie man richtig vom Boot pisst. Auf dem Weg zurück in die Hütte beschleunigt Costa seinen Schritt, er hat seinem Vater schon lange nichts mehr zu trinken gegeben, inzwischen ist er bestimmt aufgewacht und tappt orientierungslos in seinem Schlafzimmer herum.

Als Costa die Tür aufschließt, ruft sein Vater schon nach ihm. Der alte Mann stützt sich mit beiden Händen auf den Tisch neben seinem Bett und versucht, seine Tasse zu ertasten. Auf dem Esstisch die Reste seiner letzten Mahlzeit, ein Teller voller Gräten. Andrei ist 84 Jahre alt und war auch Fischer, Costa ist sein einziger Sohn. Costa gibt seinem Vater zu trinken, umarmt ihn und streichelt ihn. Dann fängt der alte Mann an zu singen: „Cand aveam 20 de ani, am iubit o fata de 16 ani. Pe atunci eram tanar, ea frumoasa.“, ein altes Seemannslied, „Als ich 20 war, liebte ich ein Mädchen, das 16 war. Damals war ich jung, und sie war schön.“

Konservendosen

Am Donnerstagmorgen ist es immer noch warm. Ich besuche ein verlassenes Fabrikgelände, das ich schon oft vom Boot aus gesehen habe. Bis 1997 war hier eine riesige Konservenfabrik. In den 90ern wurde die Fabrik erst privatisiert und dann aufgegeben. In einer Stadt wie Sulina wirkt das Gelände ziemlich überdimensioniert, in einem halben Tag könnte man nicht alle Hallen und Korridore auf den drei Stockwerken begehen. Überall liegen noch unbedruckte Dosenrohlinge herum, im obersten Stockwerk haben sich Tauben eingenistet. Hier und da sind die Reste eines nächtlichen Trinkgelages zu sehen. Es heißt, ein Investor will den Komplex sanieren und dort eine Textilfabrik unterbringen. Für viele Menschen in Sulina ist das ein Lichtblick. Die Arbeitslosen, vor allem die zwischen 40 und 50, hoffen darauf, noch einmal arbeiten zu können, um zumindest ein bisschen Rente im Alter zu haben.

Baba Rada

In dem Teil der Stadt, in dem die alte Fabrik steht, lebt auch eine Enkelin der Baba Rada. Nicht nur wegen der Namensähnlichkeit mit der russischen Baba Jaga gibt es viele Legenden um ihre Person. Der Ort, an dem sie lebte, das Dorf Mila 19, soll seit dem Ausbau der Donau verflucht sein. Es sei zu vielen ungeklärten Todesfällen gekommen und um sicher fahren zu können, mussten die Fischer eine Münze an Baba Rada bezahlen. Kindern wurde erzählt, wer flussaufwärts fahren wolle, müsse die hässliche alte Baba Rada auf den Mund küssen. Und auch einen Roman gibt es über Baba Rada: Im Buch „Das Leben ist vergänglich wie die Kopfhaare“ beherbergt Baba Rada einen Terroristen, der aus einem amerikanischen Gefängnis in Tulcea geflohen ist.

Baba Radas Enkelin Axenia erzählt mir und meinem Übersetzer, auch die Romanhandlung sei frei erfunden. Sie berichtet von einer glücklichen Kindheit mit der Großmutter. Baba Rada hatte 24 Kinder, 12 Jungen und 12 Mädchen. Alle Söhne fielen im Zweiten Weltkrieg, auch Axenias Vater

Von den Mädchen überlebten nur wenige die harten Kriegs- und Nachkriegszeiten. So unglaublich alles klingt und so wenig konkrete Jahreszahlen Axenia aufbieten kann, zieht mich die Erzählung der alten Frau doch in ihren Bann. Hätten die Söhne überlebt, hätte die Familie den ganzen Kanal kaufen können. Baba Rada war Herrin über einen ganzen Flussabschnitt und ließ sich für Fährdienste bezahlen, die sie mit ihren Booten „Calimanesti“ und „Razem“ selbst ausführte. Sie nannte immense landwirtschaftliche Flächen ihr eigen, hatte Pferde, Kühe und „sogar Schafe“. Obwohl sie bereits sehr alt war als Axenia klein war, erinnert sie sich daran, dass sie eine „kindliche und frohe Seele“ hatte. Sie war dick, klein und lustig, schwärmt Axenia. Bei ihr gab es süßen Wein und Melonen, das Leben war gut bei Baba Rada. Vielleicht entstanden viele der Legenden einfach aus Neid und Missgunst. In den Kriegswirren des 20. Jahrhunderts und mit der Besetzung Rumäniens durch die Rote Armee fand alles ein jähes Ende. Umsiedelung nach Sulina, Baba Rada starb mit 93 Jahren.

Der alte Mann und das Meer

Nachmittags habe ich eine Verabredung mit Patzan, einem der Fischer, die in der Nähe der Lagune leben. Er ist ein Freund von Mihail und Costa und will mir seine Lebensgeschichte erzählen. Patzan kam 1962 mit zwei Jahren mit seinen Eltern aus Sibirien nach Rumänien. Aus welchem Grund und wie genau, hat er nie erfahren. Dort ist er aufgewachsen und wurde Fischer. Als Patzan 23 war, überzeugte ihn ein Freund, ein Seemann aus Ungarn, gemeinsam mit ihm aus dem kommunistischen Rumänien zu fliehen. Sein Bruder hatte es bereits geschafft, nach Kanada zu kommen. Als blinder Passagier auf einem Frachtschiff, auf dem der Ungar angeheuert hatte, sollte es zunächst in die Türkei gehen, dann irgendwie weiter nach Marokko, wo sie „auf dem Feld arbeiten wollten“, so lange, bis sie genug verdient hätten, um nach Amerika zu fahren.

Sein Freund versteckte Patzan im Motorraum. Nur in Unterwäsche, bald schwarz vom Motoröl, blieb er einige Tage dort, bereits lange bevor das Schiff auslief. Versorgt mit Büchsenfleisch, das der Seemann aus der Kombüse klaute. Die fehlenden Dosen fielen jedoch bald auf, der Kapitän verständigte die Küstenwache. Patzan wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er erzählt mir, dass er im Gefängnis der große Macker war, der erste, der Mitgefangene vergewaltigte. Er war kräftig und konnte arbeiten, und so sein Strafmaß verringern. Nach dem er entlassen wurde, ging er zurück nach Sulina und arbeitete wieder als Fischer. Einmal hat er einen 490 Kilo schweren Fisch gefangen. Den Kaviar hat er gut verkauft, das Fleisch auch. Aus den über 50 Kilo Innereien bereitete er eine Suppe zu und lud 25 Freunde ein. Bei diesem Fest sagt er, hat er neun Flaschen Cognac getrunken.

Bald versuchte Patzan durch kleine Schmuggeleien und Betrügereien etwas dazuzuverdienen und flog erneut auf. Diesmal hatte er weniger Glück, während des Arrests wurde er drei Tage lang schwer misshandelt, musste wieder ins Gefängnis. Danach verbrachte er 12 Jahre in seinem Haus, ohne vor die Tür zu treten. Seine Mutter versorgte ihn mit gekochten Kartoffeln und eingelegtem Gemüse. In dieser Zeit wandte er sich der Religion und fernöstlicher Mystik zu. Er wollte büßen, auch für viele Dinge, für die er nicht bestraft wurde. Für ihn waren alle Mädchen Huren und mehr als eine musste er zwingen, mit ihm zu schlafen.

Jetzt redet er von universeller Liebe, dem Frieden, den er mit sich selbst gefunden hat und vom Respekt gegenüber dem eigenen Körper, obwohl er nach wie vor jeden Tag heftig trinkt. In den letzten Jahren hat er auch begonnen zu sammeln, nacheinander führt er einen funktionierenden Staubsauger aus den 60er Jahren, ein altes Bügeleisen, verschiedene Brillenmodelle und einen Schwarzweiß-Fernseher vor. Dann wühlt er gedankenverloren in einer Gemüsekiste mit alten Fotografien: Bildern seiner Eltern in Moskau, in Sibirien, immer wieder er mit jungen Mädchen am Strand, in Outlaw-Pose, mit seiner Gang, mit großen Fischen, Bilder seiner Kinder, die in Deutschland und England leben und die er in seinem Leben wahrscheinlich nie wieder sehen wird. Gesellschaft leistet ihm nur ein anderer alter Mann, ein entlassener Mörder, der ihm unterwürfig Bier aus der 2,5-Liter-Flasche serviert. Sich um ihn zu kümmern hat Patzan sich zur Lebensaufgabe gemacht.

Den ersten Teil der Reihe finden Sie hier.

Den dritten Teil können Sie hier lesen.

Florian Bachmeiers Bildstrecke zum Schwarzen Meer (in Zusammenarbeit mit Ramin Mazur)


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