Zurück im Delta
Den zweiten Teil zwei der Reihe finden Sie hier.
Den dritten Teil können Sie hier lesen.
Ankunft
„Du willst das Delta verstehen? Dann musst du Parapsychologe sein, so viele Geister leben hier“, sagt Dorul, der Kapitän eines Bootes, der die großen Schiffe in den Hafen von Sulina lotst. „Wir sind hier so ziemlich alles: rumänisch, griechisch, türkisch und auch ein bisschen russisch. Um uns zu begreifen, musst du hier leben.“
Ich war im vergangenen Juni zum ersten Mal im Delta: Fischer und Wilderer, ein internationaler Friedhof in Sulina, Wildpferde, Wildnis, eine Hochzeit, die drei Tage dauerte. Jetzt bin ich wieder hier.
Sulina
Mein erster Tag in Sulina, der einzigen Stadt im rumänischen Donaudelta. Die Nacht war stürmisch, Nebelfelder haben das Navigieren auf dem Donaukanal erheblich erschwert. Der Kapitän konnte nur langsam den richtigen Weg zwischen den grünen und roten Positionsleuchten finden. Im Sommer flanieren Touristen in Scharen auf der Hafenpromenade, jetzt versinkt die kleine Stadt in einen langen Winterschlaf. Sulina wirkt wie ausgestorben.
Hier an der Schwarzmeerküste lagert die Donau Sedimente ab, die über Jahrtausende das Delta gebildet haben. Ein einzigartiger Lebensraum. Ein immens großes Feuchtgebiet. Ein Netz aus Flussarmen, Kanälen, künstlichen und natürlichen Seen, schwimmenden Inseln und undurchdringlichen Schilfwäldern, die bis zu fünf Metern hoch werden.
In dieser Welt leben seit Jahrhunderten Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen: Rumänen, Bulgaren und Türken, die nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches hier angesiedelt wurden. Russische und ukrainische Altgläubige, die wegen ihres Glaubens im 17. Jahrhundert aus ihrer Heimat fliehen mussten und hier in kleinen Gemeinden ihre Tradition und Identität zu bewahren versuchen.
Die Beerdigung
Heute war ich auf der Beerdigung eines lipowenischen Fischers in der St. Nikolaus-Kirche der Altgläubigen-Gemeinde von Sulina. Von der Empore der baufälligen Kirche aus konnte ich die Liturgie beobachten. Der Ruß der Kerzen hat die Fresken in den Kuppeln mit einem schwarzen Film überzogen, die Ikonen leuchten warm und dunkel. Die Trauernden ziehen an dem aufgebahrten Toten vorbei und küssen ihm die Stirn. Die Witwe kniet regungslos mit dem Gesicht am Boden neben der Bahre.
Nach der mehrstündigen Trauerfeier wird der offene Sarg auf die Ladefläche eines Lastwagens verladen. Der Tote tritt seine letzte Reise an zum internationalen Friedhof von Sulina, dem eigentlichen Wahrzeichen der Stadt.
Dort, mitten auf dem Friedhof steht auch der Leuchtturm der „Europäischen Donaukommission“. Die Gründung dieser Kommission ging aus den Bedingungen des Vertrags von Paris hervor, mit dem 1856 der Krimkrieg beendet wurde. Die Kommission sollte die Donau zu einem schiffbaren Binnengewässer ausbauen. Für Sulina bedeutete die Präsenz der europäischen Kommissare und der Ausbau der Infrastruktur einen unglaublichen wirtschaftlichen Aufschwung, der bis zum Ersten Weltkrieg andauerte, als die Stadt und die gesamte Dobrudscha von Bulgarien besetzt und zerstört wurden.
Die Fischer
Am Abend esse ich bei den Fischern Mihai, Costa und dem Ukrainer Sergej. November und Dezember sind gute Monate für die Fischerei, der Fang ist besser als in den ersten Monaten nach der Schonzeit im Frühsommer. Jeden Tag, nachdem am Nachmittag die Arbeit beendet ist, bereiten die drei gemeinsam eine Fischsuppe zu. Die Laune ist hervorragend. Gegessen wird in zwei Gängen: Zuerst der Fisch, mit den Händen zerteilt, es gibt Zander, große Stücke vom Wels, Brachsen und grätige Karauschen Dann die eigentliche Suppe, aromatisch, salzig, kräftig. Jeder Bissen Brot saugt sich voll. Von der fein gestoßenen Knoblauchpaste bleibt nichts übrig.
Nach dem Essen zerrt Costa einen Verstärker hervor, den er an das Aggregat der Fischerhütte ansteckt und schließt seine E-Gitarre an. Immer wieder verlangt Mihai, der wegen seiner vollen Lippen und seiner hellen Stimme „Susana“ genannt wird, die Anfangsakkorde von „Nothing Else Matters“. Mihai hat von 2000 bis 2006 in Süddeutschland gearbeitet, bei einem Schausteller, einem „deutschen Zigeuner“, wie er sagt. Mit dessen Fahrgeschäften ist er zusammen mit fünf anderen Rumänen von Volksfest zu Volksfest gefahren, verdient hat er fünf Euro in der Stunde. Nach sechs Jahren bekam Mihai Heimweh nach dem Delta. Seitdem lebt der Fischer allein in einer Hütte außerhalb der Stadt.
Auch nach tausenden Fahrten in den Kanälen, auf den Seen des Deltas, auf dem Meer, bei jedem Wetter, jeden Tag, sind die Männer nicht blind geworden für die Schönheit der Landschaft. Sie erzählen mir von einem Regenbogen im Nebel, den sie im vergangenen Jahr beobachtet haben und wünschen mir zum Abschied, dass ich als Fotograf auch das Glück haben solle, so etwas zu sehen. Wenn nicht auf dieser Reise, dann auf der nächsten.
Teil zwei der Reihe finden Sie hier.
Den dritten Teil können Sie hier lesen.
Florian Bachmeiers Bildstrecke zum Schwarzen Meer (in Zusammenarbeit mit Ramin Mazur)