Die „Spionin“ in der geschlossenen Stadt
Nadeschda Kutepowa ist nach offizieller Lesart in Russland Spionin. Sie hat ihr Land verraten, Staatsgeheimnisse an die USA verkauft. Dies behauptet zumindest die Nachrichtensprecherin im russischen Staatsfernsehen. Der Tonfall ist gehässig.
Kutepowa, Leiterin der Organisation „Planet Hoffnung“, kommt selbst im Bericht freilich nicht zu Wort. Gezeigt wurde dafür ihr Haus.
Eine mediale Hetzkampagne soll die Umweltschützerin unter Druck setzen, sie einschüchtern, diskreditieren. Nicht zum ersten Mal gerät Kutepowa unter Druck: Ende Mai etwa wurde sie von einem Gericht zu einer Zahlung von 436 Euro verurteilt. Ihr Vergehen: Sie hatte „Planet Hoffnung“ nicht als „ausländischen Agenten“ registriert, wie es die restriktive russische NGO-Gesetzgebung bei finanzieller Unterstützung aus dem Ausland vorsieht.
Seit 1957 wurde der Atomunfall geheimgehalten
Mit der Kampagne ist nun ein neues Niveau erreicht: „In den landesweiten Nachrichten solche Dinge über mich zu hören, hat mich sehr beunruhigt“, erzählt Kutepowa im Gespräch. Kurz darauf informierte ihr Anwalt sie über eine drohende Anklage wegen Spionage und Landesverrat. Im Oktober beantragte sie nun mit ihren Kindern in Frankreich Asyl, seitdem lebt sie in Paris.
15 Jahre lang hatte die 43-Jährige zuvor für „Planet Hoffnung“, eine Organisation in der geschlossenen Stadt, Osjorsk im Ural gearbeitet. „Aus persönlicher Erfahrung“, habe sie begonnen, sich für die Opfer radioaktiver Verstrahlung zu engagieren, erzählt die studierte Soziologin. Ihre ganze Familie leidet unter den Schattenseiten der Atomindustrie: Ihr Vater und ihre Großmutter starben an Krebs. Beide arbeiteten zuvor als Liquidatoren bei der Dekontamination der Stadt nach dem Atomunfall in der nur wenige Kilometer entfernten Nuklearanlage Majak mit.
Am 29. September 1957 explodierte hier ein Lagerbehälter mit hochradioaktiver Abfallflüssigkeit. Ganze Landstriche mussten abgetragen werden, um die Strahlenbelastung zu reduzieren. Die damalige Führung der Sowjetunion hielt die Katastrophe in den fünfziger Jahren, die als einer der schlimmsten Atomkatastrophen überhaupt gilt, geheim. Erst 1989 wurde damit begonnen, relevante Dokumente zu veröffentlichen.
Eine geschlossene Stadt
Osjorsk und die Nuklearanlage Majak liegen 80 Kilometer nordwestlich der Stadt Tscheljabinsk. 1948 wurde hier mit der Produktion von waffenfähigem Plutonium begonnen, heute wird in Majak die einzige Wiederaufbereitungsanlage Russlands für Brennstäbe betrieben. Attraktiv ist die Arbeit wegen der Bezahlung. In Osjorsk verdienen die Angestellten in der Atomindustrie zwischen 290 und 363 Euro im Monat. Das ist mehr als der regionale Durchschnitt.
Der Alltag ist allerdings streng geregelt. Die Stadt mit ihren 100.000 Einwohnern darf nicht ohne spezielle Erlaubnis durch den Inlandsgeheimdienst FSB betreten werden. „Es ist wie ein Staat in einem Staat“, sagt Kutepowa. Alle Einwohner müssten beim Betreten und Verlassen der Stadt ihre Dokumente herzeigen. Auch Freunde und Verwandte müssen vor einem Besuch ebenfalls erst um Erlaubnis anfragen, erzählt sie.
Wie Kutepowas Familie leiden viele in Osjorsk auch heute noch an den Spätfolgen der Katastrophe. Unterstützung vom russischen Staat gibt es nur selten. Aus Gründen der Geheimhaltung wurde bei Personen, die vor 1994 in der geschlossenen Stadt geboren wurden, als Geburtsort nicht Osjorsk eingetragen, sondern die nächste größere Stadt Tscheljabinsk - so auch bei Kutepowa. Zu beweisen, dass eine Krankheit wirklich durch die Katastrophe vor fast 60 Jahren verursacht wurde, ist damit fast unmöglich.
Nur selten gibt es Schadenersatz
Nur selten werde vor Gericht erfolgreich auf Schadensersatz entschieden, sagt Kutepowa. Osjorsk selbst sei längst wieder sauber, beteuerten die Behörden immer wieder, erzählt Kutepowa. Umweltorganisationen sprechen aber vom Gegenteil. Vor allem die Flüsse sind stark verschmutzt. Jahrzehntelang wurde radioaktiver Abfall versenkt, die Gesundheitsrisiken für die Bevölkerung sind immer noch riesig. „Dies zu beweisen ist für uns fast nicht möglich“, klagt die Aktivistin. Offizielle Untersuchungsergebnisse werden von den Behörden geheim gehalten.
Trotzdem fällt es Nadeschda Kutepowa nun schwer, ihre Heimat zu verlassen. Es sei wichtig, dass sich jemand für die Menschen in Osjorsk einsetzt. Deren Arbeit sei wichtig. Immer noch lagert in Majak radioaktiver Abfall, die Probleme sind noch nicht gelöst, sagt sie. Im Moment setzt sie ihre Arbeit aus dem Ausland fort.
Einen Teilerfolg hat Kutepowa errungen: Ende Oktober verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg den russischen Staat nach einem neunjährigen Rechtsstreit zur Zahlung von 2.000 Euro an ihre Mutter, weil sie Witwe eines Majak-Liquidators ist. Viel zu spät: Vor sechs Jahren ist ihre Mutter gestorben, erzählt Kutepowa.