„Unangenehme Überraschung für Lukaschenko“

n-ost: Am Donnerstag, drei Tage vor den belarussischen Präsidentschaftswahlen, wurde die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Wird das die politische Situation irgendwie beeinflussen?
Ales Bjaljazki / Foto: Simone Brunner
Ales Bjaljazki: Nein, das wird wohl kaum etwas an den Wahlen oder der politischen Situation ändern. Aber für das belarussische Kulturleben ist es ein großes Ereignis: dass die belarussische Literatur auch als eine europäische Literatur wahrgenommen wird – im Unterschied zu anderen Literaturen führt sie ja ein Schattendasein und wird im europäischen Kontext kaum wahrgenommen. Dass eine Belarussin erstmals den Literaturnobelpreis erhält, ist eine neue Stufe für unsere Literatur, das wertet sie ungemein auf. Es ist zwar keine Unterstützung im politischen, aber eine große Unterstützung im moralischen Sinne.
Alexijewitsch gilt als eine Chronistin der postsowjetischen Psyche. Gerade in Belarus ist die nationale Identität oft sehr schwach ausgebildet. Wie wird die Auszeichnung das belarussische Kulturleben beeinflussen?
Bjaljazki: Sie wird der belarussischen Kultur großen Auftrieb geben. Mit der Stimme von Alexijewitsch wird auch die Stimme der belarussischen Kultur auf der internationalen Ebene stärker und lauter gehört werden als bisher.
Wird Präsident Alexander Lukaschenko versuchen, diesen Preis für sich zu instrumentalisieren?
Bjaljazki: Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Alexijewitsch hat sich immer kritisch mit dem autoritären Regime von Lukaschenko auseinandergesetzt. Diese Kritik ist in ihrer Literatur spürbar. Und im Gegenzug hat das Regime auch stets so getan, als gäbe es Alexijewitsch gar nicht. Sie kommt praktisch gar nicht in den Staatsmedien vor, nirgends. Ich denke, dass das für Lukaschenko eine eher unangenehme Überraschung ist.
Alexijewitsch – eine Autorin der belarussischen Opposition also?
Bjaljazki: Alexijewitsch ist keine politische Autorin. Sie ist auch abseits der Opposition in Belarus eine berühmte Schriftstellerin, man kennt sie. Und das, obwohl das Regime seit 20 Jahren versucht, dass so wenige Informationen wie nur möglich über sie verbreitet werden. Sie konnte in Belarus kaum Lesungen veranstalten, und ihre Werke und Beiträge wurden auch nicht in den staatlichen Verlagen und Vertrieben publiziert.
Sie sind selbst Literaturwissenschaftler. Was ist für Sie das Besondere an Alexijewitschs Werk?
Bjaljazki: Sie hat die Technik der literarischen Interviews zur Meisterschaft gebracht. Dabei tritt sie als Autorin völlig hinter die Interviewten zurück, du fühlst dich in die Figuren ein. Das kreiert eine besondere Form der Aufrichtigkeit. Sie greift in ihren Werken auch immer gesellschaftspolitische Themen auf, die für Belarus und den postsowjetischen Raum wichtig sind, wie den Krieg in Afghanistan oder die Katastrophe von Tschernobyl.
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Zur Person:
Ales Bjaljazki ist ein belarussischer Menschenrechtler. Er hat in Literaturwissenschaften promoviert und 1996 das belarussische Menschenrechtszentrum „Viasna“ (Frühling) gegründet. Die Organisation unterstützt politische Gefangene und ihre Familien. 2011 wurde Bjaljazki selbst wegen Steuerhinterziehung zu 4,5 Jahren Straflager verurteilt. Die EU und die USA kritisierten das Urteil als politisch inszeniert. Im Juni 2014 wurde Bjaljazki frühzeitig aus dem Straflager entlassen. Bjaljazki wurde zwei Mal für den Friedensnobelpreis nominiert.