Massenproteste im ärmsten Land Europas
Hupende Autos düsen mit heruntergerollten Fenstern am Sitz der moldauischen Regierung vorbei. Blau-gelb-rote Landesfahnen wehen in der Abendluft. Auf dem Platz vor der Nationalversammlung in der moldauischen Hauptstadt Chisinau wollen sich die Demonstranten Mut machen.
Seit dem Wochenende protestieren sie gegen die Regierung von Präsident Nicolae Timofti. Der Vorwurf: ausufernde Korruption. Mitten im Machtzentrum der zwischen Rumänien und Ukraine eingezwängten ehemaligen Sowjetrepublik haben die Demonstranten eine Zeltstadt aufgebaut. Sie wollen erst gehen, wenn Neuwahlen ausgerufen werden.
„Rücktritt, Rücktritt!“, skandiert die Menge. Der pro-europäischen Timofti-Regierung kommt im moldauischen Machtspiel nur eine Statistenrolle zu, glauben die Demonstranten. „Nieder mit den Oligarchen“, schreit ein junger Mann.
Die Demonstranten sind überzeugt: Die wahre Macht im Lande liegt beim 49-jährigen Oligarchen und Politiker Vlad Plahotniuc. Der Milliardär gilt als der Strippenzieher der moldauischen Politik. „Dieser Schweinehund denkt, ihm gehört das ganze Land“, schimpft Konstantin Lupescu, der seit zwei Tagen vor dem Regierungssitz zeltet. Wie alle auf dem Platz der Nationalversammlung ist der 30-jährige IT-Fachmann enttäuscht von der politischen Klasse Moldawiens. „Plahotniuc hat sie doch alle gekauft. Sie geben vor, uns nach Europa zu führen und Korruption zu bekämpfen, sind aber selbst korrupt“.
Der junge Mann klingt verbittert. Als die pro-europäische Koalition vor fünf Jahren an die Macht kam, waren die Hoffnungen groß, eine neue Perspektive für das ärmste Land Europas schien sich aufzutun - doch die vermeintliche Erfolgsgeschichte Moldawiens, die im vergangenen Jahr in ein EU-Assoziierungsabkommen und Visafreiheit mündete, liegt nun in Scherben. Die Reformen kommen nach wie vor nicht voran, die Jungen wollen nicht in der Heimat bleiben, stattdessen zieht es immer mehr Hochqualifizierte nach Frankreich, Italien oder Deutschland.
Ein spektakulärer Betrugsfall heizt den Volkszorn weiter an. Wegen dubiosen Kreditgeschäften verschwanden bereits im Mai aus den drei wichtigsten Banken des Landes 900 Millionen Euro, etwa 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds stoppten daraufhin Zahlungen an das angeschlagene Land. Moldau musste die maroden Banken retten, der Kurs der Landeswährung Leu fiel um 23 Prozent, Lebensmittelpreise schellten in die Höhe. Hinter dem Milliardendeal könnten nur Plahotniuc und die Regierung stecken, glaubt Demonstrant Lupescu: „Diese Banditen gehören ins Gefängnis!“
Die Regierung habe das Vertrauen der pro-europäischen Mehrheit im Land verspielt, meint auch
Octavian Ticu, Politologe an der Universität Chisinau. „Seit Jahren gaukeln unsere Politiker den Moldauern eine europäische Perspektive vor. Sie missbrauchen das europäische Projekt, um sich selbst zu bereichern“, sagt Ticu.
Doch ob die Demonstranten Erfolg haben, ist ungewiss. Am Wochenende demonstrierten Zehntausende auf dem Platz vor der Nationalversammlung, inzwischen sind es nur noch Hunderte. Octavian Ticu hält die Forderungen der Demonstranten für unrealistisch. „Dann müsste sich die Regierung ja selbst hinter Gittern bringen“, lacht er. Zudem hätten die Regierungskritiker keine charismatische Identifikationsfigur, die sie in einen vorgezogenen Wahlkampf führen könnte, glaubt Ticu. Jetzt komme es darauf an, ob die Regierung sich mit den Demonstranten auf einen Dialog einlässt und Zugeständnisse mache. „In jedem Fall steht uns ein heißer Herbst bevor“, so Ticu.