Flüchtlinge und Journalisten: Nähe oder Distanz?
„Wir analysieren nicht“: Cathrin Kahlweit berichtet für die Süddeutsche Zeitung als Korrespondentin aus Mittelosteuropa – aktuell vor allem aus Ungarn.
„Ich empfinde die aktuelle Berichterstattung zur Flüchtlingskrise als widersprüchlich, atemlos und ein wenig planlos. Die Medien hetzen wie die Politik den Entwicklungen hinterher. Als Journalist hat man bisweilen das Gefühl, dass die schwer überschaubare politische Kommunikation innerhalb der EU auch die Berichterstattung beeinflusst. Wir berichten. Wir analysieren nicht.
Spät und nicht umfassend genug wird nun in den Redaktionen versucht, das an Planung und Analyse nachzuholen, was wir in den vergangenen Wochen aus Mangel an Zeit und Gelegenheit nicht geschafft haben. Wir tragen nach.
Langfristige Folgen statt Emotionen
Eine große Emotionalität bei der aktuellen Berichterstattung halte ich weder für sinnvoll, noch kann ich sie nachvollziehen. Das liegt vielleicht daran, dass ich diesen Job seit fast 30 Jahren mache. Ich habe zuletzt in der Ukraine über Flüchtlinge und Krieg geschrieben, ich habe über 1989 berichtet, als DDR-Flüchtlinge über die plötzlich offene Grenze aus Ungarn kamen. Es ist derzeit eher die Ambivalenz der Ereignisse, die mich sehr fordert. Und manchmal überfordert sie mich.
Ungarn ist in dieser Hinsicht hochspannend: Da ist der harte politische Kurs der Politik im Land selbst, aber da sind auch die nicht immer ehrlichen Reaktionen der Europäer darauf. Ich bin überzeugt, dass es viele europäische Politiker gibt, die zwar verbal verdammen, was Ministerpräsident Orban tut, ihm aber, zynisch formuliert, Erfolg wünschen. Weil er – sollte er es schaffen, die Balkanroute zu schließen – Europa zumindest eine Atempause verschafft.
Welche Interaktionen gibt es zwischen Brüssel und Budapest? Welche Folgen haben die aktuellen Lagerbildungen zwischen Ungarn und Deutschland? Die langfristigen Auswirkungen der Krise werden uns noch sehr beschäftigen. Und dafür braucht es mehr Analyse.“
„Ob man sich emotional reinziehen lassen darf, ist eine Scheindebatte“: taz-Redakteur Martin Kaul kaufte Lebensmittel für die am Budapester Bahnhof ausharrenden Menschen und saß im ersten Bus, der die Flüchtlinge nach Österreich fuhr.
„Journalistisch war die Flüchtlingskrise für mich wie für viele Kollegen eine Grenzerfahrung, ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich wurde über Twitter von vielen Menschen angesprochen, die mich als ihren Stellvertreter vor Ort wahrgenommen haben. Es gab hunderte Anfragen, ich solle mit dem Berichten nicht aufhören. Daraus ergibt sich natürlich eine bestimmte Verantwortung: sich nicht von den Emotionen treiben zu lassen, sondern immer beim Faktencheck zu bleiben.
Die Quellenlage – ob bei den Agenturen oder auf Twitter – war äußerst dünn. Ich habe es als meine Hauptaufgabe begriffen, Quellen aus erster Hand weiterzugeben.
Öffentlichkeit als Schutz
Doch es gibt auch eine Verantwortung, das, was man in so einer Situation emotional erfasst, zu transportieren. Ob man sich emotional reinziehen lassen darf, ist doch eine Scheindebatte. Wer in einer Situation wie in Budapest als Journalist seine Verantwortung nicht begreift, im Sinne der Menschen- und Bürgerrechte für eine freie Gesellschaft zu schreiben, der ist kein Journalist.
Die Öffentlichkeit – ob Journalisten, Konfliktschlichter oder Twitterer – war der einzige Schutz für die Flüchtlinge vor Ort. Am Budapester Bahnhof gab es weder staatliche noch von NGOs organisierte Hilfe. Die einzigen, die geholfen haben, war eine Facebook-Gruppe: die 30 bis 40 Freiwilligen von Migration Aid. Jeder Journalist, der etwas über Europa erfahren möchte, sollte sich auf den Weg nach Ungarn machen.“
„Unser Job ist es, zu berichten“: ARD-Hörfunk-Korrespondent Stefan Ozsvath ist an den Brennpunkten der Flüchtlingskrise in Ungarn, Serbien, Österreich und Mazedonien unterwegs.
„Ich berichte für die 64 Hörfunkprogramme der ARD über die Flüchtlingssituation in ganz Südosteuropa. Wenn ich im Einsatz bin, dann bin ich nonstop auf Sendung – mit Live-Schalten, Beiträgen, Nachrichtenminuten. Da bleibt nicht viel Zeit, um über meine Rolle als Reporter nachzudenken.
Hinzu kommt das rasante Tempo, in dem sich die Schauplätze der Flüchtlingskrise verlagern. Am vorvergangenen Sonntag war ich noch an der serbisch-ungarischen Grenze und sammelte Eindrücke an dem Zaun, der gerade fertiggestellt worden war. Den kompletten Montag saß ich im Hotel, produzierte Beiträge und gab Interviews. Am Dienstagmorgen ging es dann im Eiltempo nach Budapest. Ich baute im Bahnhofsrestaurant provisorisch meine Technik auf und machte weiter mit Beiträgen und Live-Gesprächen.
Einmischung von Reportern ist grenzwertig
Dennoch gibt es immer wieder Szenen, die mich aus meiner Routine herauswerfen. Zum Beispiel die aufgelöste junge Syrerin, die in Gevgelija an der mazedonisch-griechischen Grenze auf uns zukam. Sie hatte ihr Kind auf der griechischen Seite verloren. Mein Team und ich haben versucht, ihr zu helfen, wurden allerdings gleich von einem mazedonischen Polizisten zurechtgewiesen. Wir haben dann eine Helferin vom UNHCR um Hilfe gebeten. Das war richtig: Später habe ich die Frau wieder mit ihrem Kind gesehen.
An der serbisch-ungarischen Grenze habe ich einen französischen Reporter gesehen, der den Flüchtlingen Tipps gab, wie sie zu den Schleusern kommen. Das fand ich grenzwertig.“
„Noch entmutigender als die Einzelschicksale ist die Politik“: Der freie Journalist und Fotograf Wassilis Aswestopoulos berichtet über die Flüchtlinge in Griechenland und begleitete einige von ihnen auf ihrem Weg nach Österreich.
„Seit Jahren fotografiere ich Flüchtlinge, die völlig entkräftet auf den griechischen Inseln ankommen. Bilder wie das des toten Jungen am Strand in der Türkei, über das so heftig diskutiert wurde, habe ich schon oft gesehen.
Wenn die Menschen stranden, sind wir Journalisten und Fotografen oft ihre ersten Ansprechpartner. Eine junge Syrerin mit zwei Kindern sagte mir auf Kos, sie würde sich umbringen, wenn sie nicht auf die Fähre zum Festland gelassen wird. In solchen Fällen gehe ich zu den Leuten vom UNHCR und drohe mit negativer Presse, wenn sie nicht sofort helfen. So machen das übrigens viele Kollegen.
Alles geht wieder von vorne los
Noch entmutigender als die Einzelschicksale finde ich aber die Politik, die meiner Meinung nach ihre Augen verschließt. Alles wiederholt sich, nichts ändert sich. Aufnahmelager, in denen die ungarische Regierung jetzt die Flüchtlinge interniert, kenne ich schon aus Griechenland. Die Regierung Tsipras hat die Menschen aus diesen Lagern Anfang des Jahres freigelassen. Auch das hat für den Flüchtlingsstrom gesorgt, der jetzt über den Balkan zieht.
Auch die Wirkung von Grenzzäunen kenne ich, bereits 2011 war ich an dem Zaun zwischen der Türkei und Griechenland. Ein Jahr lang kann solch ein Stacheldraht Flüchtlinge abhalten. Dann suchen sich die Schlepper neue Wege nach Europa. Und alles geht wieder von vorne los.“
„Die Berichterstattung über Ungarn ärgert mich“: Die in Berlin lebende ungarische Journalistin Anna Frenyo berichtete für den deutschen Hörfunk vom Bahnhof Bicske, an dem sich Ende vergangener Woche Flüchtlinge weigerten, in ein Aufnahmelager zu gehen.
„Die Situation in Bicske war sehr mitreißend. Die Flüchtlinge, die mit dem Zug dort hingebracht worden waren, aßen und tranken 24 Stunden lang nichts. Sie wollten nicht ins Lager, sie wollten nach Deutschland. „No Camp, No Hungary, Freedom“, hatten sie mit Zahnpasta auf den Zug geschrieben.
Ich bin in die Situation eingetaucht und habe alles aufgesogen wie ein Schwamm – und bin in dem Feature, das ich für den SWR produziert habe, als teilnehmende-reflektierende Person dabei. Eine solche Erzählform braucht eine sehr sensible Redaktion, die genau hineinspürt, was erzählt werden will.
Hilfsbereite Ungarn
Jeder ist subjektiv. Aber das heißt auch, dass man offen sein muss für unterschiedliche Ansichten und Perspektiven zu einem Thema. In der deutschen Presse fehlt mir diese Ausgewogenheit. Sehr früh haben sich die Medien auf die Person Viktor Orban fokussiert und ihm die Schuld an derEskalation gegeben. Dabei eskalierte das Chaos in Ungarn erst nach der missverständlichen Meldung aus Deutschland, dass alle syrischen Flüchtlinge willkommen seien.
Wenig berichtet wurde auch über die Ungarn, die trotz ihrer eigenen Armut helfen wollten. In Budapest habe ich mit einem alten Mann gesprochen, der von seiner kleinen Rente zehn Zugtickets gekauft hatte und sie an Flüchtlinge verteilte.“
Journalisten prägen die Schauplätze der Flüchtlingskrise maßgeblich mit: Fotoreporter Laszlo Mudra zeigt in der folgenden Bildstrecke das Zusammenspiel von Medien und Flüchtlingen am Budapester Ostbahnhof. Ein Protokoll und weitere Bilder zu der Situation finden Sie hier.