Flüchtlingskrise: Quälende Bilder
Ausschreitungen an der mazedonischen Grenze, Ungarns Stacheldrahtzaun, die erbärmlichen Zustände am Budapester Ostbahnhof: Täglich liefern uns Fotografen Bilder, die das Elend der Flüchtlinge auf ihrem Weg durch Südosteuropa dokumentieren.
Die Bilder der erstickten Flüchtlinge in einem LKW in Österreich und das Bild des ertrunkenen Jungen Aylan Kurdi machen die größte Furore. Es sind zwei Fotos, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Die Wiener Kronen Zeitung druckte das unverpixelte LKW-Bild zuerst, die Bildzeitung zog nach. Die Debatte um die Veröffentlichung der Schockbilder hätte ein Wendepunkt in der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise werden können. Leider sieht es nicht danach aus.
Nur ein Schockeffekt oder Zeitgeschichte?
Am 28. August brachte die Kronen Zeitung das Schockfoto von den toten Flüchtlingen, die in einem abgestellten LKW auf der österreichischen A4 unter grauenhaften Umständen erstickt waren. Tags zuvor war die Zahl der Opfer auf tagesschau.de von 20 über „bis zu 50“ auf schließlich 71 gestiegen. Das Bild, offensichtlich durch einen Mitarbeiter der Polizeikräfte am Tatort angefertigt, zeigt den Blick durch die geöffnete rechte Ladeklappe eines 7,5-Tonners in das Innere des LKW, in dem sich dicht an dicht zusammengepfercht die Leichen der Opfer stapeln.
An den Körpern und an der Innenseite der Ladetür kann man deutlich die Leichensekrete erkennen. Man muss das Bild in all seiner Drastik beschreiben, um dem billigen Schockeffekt gerecht zu werden, den es auf den Betrachter ausübt, denn um mehr geht es hier nicht.
Die Veröffentlichung des Bildes hat eine heftige Debatte ausgelöst. Die Bild-Zeitung unterschrieb das Foto: „Ein Dokument der Zeitgeschichte und ein Foto der Schande“. Die Berliner B.Z. nahm das Bild aufs Cover und titelte: „Schaut hin, ihr besorgten Bürger“. Beide Zeitungen argumentieren mit dem journalistischen Aufklärungsanspruch. B.Z.-Chefredakteur Peter Huth ging noch weiter und proklamierte dramatisch: „Wir haben keine Angst vor der Wirklichkeit.“
Fotos sind ein schwaches Medium
Damit hat Huth, wohl unbeabsichtigt, ein scharfes Argument in die Diskussion eingeführt, das bislang wenig Beachtung fand. Denn jenseits medienethischer und presserechtlicher Abwägungen ist die Frage nach der Beweiskraft solcher Schockbilder in der aktuellen Flüchtlingskrise kaum gestellt worden.
„Quälende Fotos“, schreibt die große amerikanische Publizistin Susan Sonntag in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten, „verlieren nicht unbedingt ihre Kraft zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter.“ Sontag argumentiert, dass die Fotografie eingebunden in das System der Massenmedien zu einem per se schwachen Medium wird. Die Beweiskraft einer Fotografie, ihre Botschaft, sogar ihr aufklärerischer Impetus gehen nie über die Bildunterschrift hinaus, die das Foto einordnet. „Wo es um Fotos geht, wird jeder zum Buchstabengläubigen“, sagt Sontag.
Was zeigt uns also das Bild vom Innern des LKW oder noch besser, was fügt es unserem Wissen vom Leid der Flüchtlingskrise hinzu? Bringt es die unzumutbaren Verhältnisse auf der griechischen Insel Kos, das Leid in österreichischen Erstaufnahmelagern, die schweren Verletzungen der Flüchtlinge durch Viktor Orbans Nato-Draht-Grenze oder die rassistische Hetze des sächsischen Mobs in Heidenau auf den Punkt? Zeigt es wirklich das Versagen der europäischen Politik? Nein, natürlich nicht! Es zeigt vielmehr den Tatort eines Verbrechens von kriminellen Schleppern, die den Tod von 71 Menschen billigend in Kauf genommen haben, um Profit daraus zu schlagen. Nicht mehr und nicht weniger. Das allein ist abscheulich, keine Frage. Doch die Rhetorik, die Redaktionen auffahren, um die Veröffentlichung zu rechtfertigen und mit der sie sich gar zu Anwälten der Verfolgten aufschwingen, ist es ebenso.
Sensationsgier verpackt in Humanismus
Das Bild, dem Anschein nach ein Amateurfoto, unter nebulösen Umständen der Redaktion eines Boulevardblattes zugespielt, ist vielmehr ein Zeugnis der Bereitschaft, sich mit den Lorbeeren der Tradition des Fotojournalismus als Humanismus zu schmücken. Im Interview mit dem Branchendienst Meedia.de stellte Bild-Online-Chef Julian Reichelt das Foto dann gar auf eine Stufe mit Nick Uts ikonischem Foto des fliehenden Mädchens vor einem Napalm-Angriff im Vietnamkrieg.
Solche Statements sollten zu denken geben, denn sie sind Legitimationen eines Bildverständnisses, das auf kurzfristige Erregungspeaks beim Publikums setzt, nach Verlagsprofiten schielt und dabei die ernsthafte fotojournalistische Auseinandersetzung mit akuten Themen der Zeitgeschichte über die Klinge springen lässt.
Am 3. September ging ein anderes schreckliches Bild um die Welt. Die türkische Reporterin Nilüfer Demir fotografierte den dreijährigen Aylan Kurdi, dessen Leiche im türkischen Bodrum angespült worden war. In einem signalroten T-Shirt und ohne Schwimmweste liegt das Kind bäuchlings in den Fluten. Ein weiteres Bild der Serie zeigt einen hochgewachsenen türkischen Beamten, der das kleine Bündel behutsam vom Strand wegträgt. Der Mann hat seinen Blick von dem Jungen abgewendet, mutmaßlich, weil er es nicht ertragen kann. Unter dem Hashtag „Die fortgespülte Menschlichkeit“ geht das Bild seither per Twitter um die Welt.
Dem toten Jungen seinen Namen zurückgeben
Demirs Fotografien sind schwer auszuhalten, aber sie kommen ohne den anheischigen Schleier des Voyeuristischen aus. Die Journalistin hat vor Ort unter dem Bild gelitten, sie hat sich nicht versteckt. Sie hat abgewogen und dann nach ihren eigenen genuin menschlichen Maßstäben und allgemeinen journalistischen Kategorien entschieden, genau diese Bilder, genau diese Bildausschnitte aufzunehmen. Für ihr Urteil, das Bild zu machen, zeichnet sie in der Autorenzeile verantwortlich.
Sie hat dem anonymen toten Kind durch ihr Foto seinen Namen zurückgegeben. Nun kennt ihn die ganze Welt. Im Interview mit der türkischen Zeitung Hürryiet erzählt die Reporterin, wie ihr das Blut in den Adern gefror, als sie den Jungen sah, und wie schwer es ihr fiel, auf den Auslöser ihrer Kamera zu drücken. Sie sagt, sie wollte durch ihr Foto „den leblosen Schrei des am Boden liegenden toten Jungen (...) ausrufen.“ Anders als bei dem anonymen Schnappschuss des LKW-Bildes können wir sicher sein, dass Demirs Fotos freigestellt sind vom Vorwurf des Sensationalismus und des fadenscheinigen Aufklärungsdünkels.
Wir müssen selbst eine Haltung entwickeln
Wir, die Betrachter dieser Schockbilder, müssen im Zeitalter von Facebook, Twitter und inflationär gesetzten Likes wieder lernen, zu differenzieren zwischen Fotografien, die uns verletzen und betroffen machen und solchen, die uns zu Werkzeugen interessensgeleiteter Sensationsgier machen wollen. Unser Bildergedächtnis ist voll mit Schreckensbildnissen, und es ist wichtig, dass es sie gibt. Niemand darf behaupten können, Kriege fänden nicht statt oder die tausendfach Ertrunkenen im Mittelmeer existierten nicht. Fotografien zwingen uns zur Augenzeugenschaft des Elends in der Welt. Sie weisen uns hin, verstören und irritieren uns, aber sie sprechen uns nicht von der Aufgabe frei, diesem Elend zu begegnen und selbst eine Haltung zur Wirklichkeit zu entwickeln.
Die Schockbilder von Kronen Zeitung und & Co. bieten uns dagegen nichts weiter an als eine billige Abkürzung, nämlich Instant-Erregung gepaart mit selbstgefälliger Kritik, die so schnell verhallt, wie eine neue Ausgabe gedruckt ist. Für das erlösende Gefühl, wenigstens kurzfristig auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen, wollen sie uns zwingen in das Klagelied der Betroffenheits-Rhetorik zu ihren Konditionen einzustimmen. Wir können, nein, wir müssen uns immer wieder dagegen entscheiden.
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Quellen:
Susan Sontag. Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt a.M..2005.
http://meedia.de/2015/08/31/das-schock-foto-und-die-moral-frage-historischer-moment-oder-nur-noch-voyeuristisch (03.09.2015)
http://www.bz-berlin.de/welt/warum-b-z-das-foto-der-erstickten-fluechtlinge-druckte (03.09.2015)
http://derstandard.at/2000021418621/Fluechtlingsdrama-Krone-Foto-toter-Fluechtlinge-unentschuldbar?ref=rec (03.09.2015)
http://www.hurriyet.com.tr/gundem/29978898.asp (03.09.2015)
http://meedia.de/2015/09/03/das-traurigste-foto-der-welt-kiyiya-wird-zum-symbolbild-der-fluechtlingskrise (03.09.2015)