Mehr Europa für den Westbalkan
Der Westbalkan erlebt derzeit gleich eine doppelte Flüchtlingswelle: Einerseits drängen Zehntausenden Menschen aus dem Nahen Osten, Mittelasien und Afrika über die Balkan-Route nach Mittel-und Nordeuropa. Anderseits fliehen seit Monaten auch immer mehr Bürger aus den Ländern der Region selbst – vor der Armut und vor der völligen Perspektivlosigkeit. Sie fliehen, weil sie keine Beziehungen zu korrupten Regierungspolitikern oder Beamten haben, die ihnen Posten und damit ein Auskommen verschaffen. Oder sie fliehen, weil sie zu einer diskriminierten Minderheit gehören.
Die Lage der Flüchtlinge ist das Vorzeichen, unter dem am Donnerstag (27.8.) in Wien die zweite europäische Westbalkan-Konferenz stattfindet. Staats- und Regierungschefs der EU und des Westbalkans werden gemeinsam über mögliche Lösungen beraten, unter anderem über finanzielle und logistische Hilfe für Mazedonien und Serbien, die mit den Flüchtlingen überfordert sind.
Pessimismus im Vorfeld
Der bosnisch-österreichische Politologe Vedran Dzihic, der im Vorfeld der Wiener Konferenz ein Treffen zivilgesellschaftlicher Initiativen vom Westbalkan mitorganisiert, ist jedoch skeptisch, was das Ergebnis der Beratungen angeht. „Natürlich wird die EU jetzt mehr Geld für Länder wie Mazedonien und Serbien locker machen und ihnen mehr Aufmerksamkeit widmen, aber langfristig sehe ich keine Änderung“, so Dzihic.
Eigentlich ist die Wiener Westbalkan-Konferenz Teil des so genannten Berlin-Prozesses, der im vergangenen Jahr unter deutscher Federführung begann. Vorgeblich geht es um eine europäische Wende in der Westbalkan-Politik: Der Berlin-Prozess soll zu mehr Demokratisierung und wirtschaftlicher Stabilität in der Region beitragen, die EU-Perspektive des Westbalkans fördern und damit auch die Ursachen für den Exodus aus den Ländern der Region beseitigen.
Die Initiative zum Berlin-Prozess kam, nachdem die EU auf dem Westbalkan jahrelang vor allem an Sicherheit und Stabilität interessiert war. „Die EU hat lange Zeit zu viele Kompromisse mit den herrschenden Eliten gemacht“, sagt Vedran Dzihic.
Finanzielle Hilfen für die Region
An eine wirkliche Wende in der EU-Westbalkan-Politik glaubt er wie viele Experten vorerst nicht: „Es gibt bisher nur eine Wende, die sich aus neuen Ängsten speist, Angst vor den Flüchtlingen, vor dem Erstarken des russischen Einflusses am Balkan und vor dem möglichen Erstarken des radikalen Islam in der Region.“
Dzihic fordert, dass sich die EU der tiefen Probleme des Westbalkans offensiv annehmen müsse, nur so könne der Region nachhaltig geholfen werden. Er ist damit nicht allein. Viele prominente Stimmen aus der Region treten für Ähnliches ein, etwa die serbische Politologin Jelena Milic, die einen „Marshall-Plan für den Westbalkan“ verlangt.
Der Hintergrund: Die sozialökonomische Lage auf dem Westbalkan ist durchgehend trostlos. Die Arbeitslosigkeit in den Ländern der Region beträgt zwischen 20 und 50 Prozent. Einige Länder wie Albanien, Kosovo und Mazedonien haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten durch Abwanderung bis zu 20 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Die Daheimgebliebenen leben oft von Finanztransfers ihrer im Ausland arbeitenden Verwandten. Fast überall ist der Staat größter Arbeitgeber, Netzwerke aus korrupten Parteifunktionären und Beamten verteilen Ressourcen und Arbeitsplätze. Hinzu kommt, dass „autoritäre Tendenzen des Regierens stärker werden“, wie der Politologe Vedran Dzihic sagt. „Mächtige Zirkel aus politischen und ökonomischen Eliten haben die Macht im Staat und lassen sich durch nichts aus ihren Positionen wegbringen.“
Die Folge der desaströsen politischen und ökonomischen Lage sind Sozialrevolten wie in Bosnien im vergangenen Jahr oder ein Massenexodus wie im Kosovo zu Jahresanfang. Deshalb sei es wichtig, so der Politologe Vedran Dzihic, dass der Berlin-Prozess Ergebnisse liefere und kein Feigenblatt für das allgemeine Desinteresse der EU am Westbalkans bleibe.
Dass sich der Flüchtlingsstrom vom Westbalkan kurz- oder mittelfristig stoppen lässt, glaubt indes kaum ein Beobachter. Studien belegen eher das Gegenteil: Laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung in Westbalkan-Ländern, die kürzlich veröffentlicht wurde, sind rund die Hälfte aller jungen Menschen der Region entschlossen, auszuwandern.
Quellen:
eigene Gespräche/Interviews mit Politologen, u.a. Vedran Dzihic und Jelena Milic
Konferenz- und Studienmaterial der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Westbalkan: http://www.fes-europe.eu/index.php?option=com_content&view=article&id=539%3Aa-new-initiative-for-stability-and-prosperity-in-the-western-balkans&catid=38%3Averanstaltunshinweise&Itemid=64&lang=de
Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Auswanderungstendenzen unter jungen Menschen auf dem Westbalkan und in Südosteuropa: http://library.fes.de/pdf-files/bueros/sarajevo/11505.pdf