Perm: Alles neu macht der Krieg
Das hatte sie nicht kommen sehen. Tatjana Kursina sitzt in ihrer Küche im 17. Stock eines Hochhauses am Stadtrand von Perm, der Millionenstadt am Ural. Die Historikerin und ihre Mitstreiter der Organisation Perm-36 haben sich 20 Jahre lang für ein besonderes Museum in Russland engagiert. In einem ehemaligen Straflager konnten Besucher alles über die Opfer der sowjetischen Diktatur erfahren. Unter Stalin war das Lager seit 1946 ein Gulag, danach eine gewöhnliche Haftanstalt für Kriminelle aus den Sicherheitsorganen und ab 1972 eins der strengsten Lager für politische Gefangene.
Das Museum nahe Perm war zu einem Symbol für das monströse Gulag-System und für die weggesperrten Dissidenten der späten Sowjetunion geworden. „Wir haben das Museum zusammen mit dem Staat organisiert. Alle haben verstanden, wie einzigartig dieses Denkmal ist“, sagt Tatjana Kursina.
Ein seit bald zwei Jahren erbittert geführter Konflikt zwischen den Menschenrechtsaktivisten von Perm-36 und dem Kreis Perm aber macht ihre Arbeit Stück für Stück zunichte. Der einstige Partner der Initiative hat es erst verstaatlicht und dann Kursina als frühere Geschäftsführerin gegen eine Beamtin ausgetauscht.
Das war Anfang 2014. Seitdem wird die Organisation mit Gerichtsprozessen und Finanzansprüchen überzogen, Kursina per Gerichtsurteil auch persönlich belangt. Sie soll umgerechnet rund 1.400 Euro zahlen. Weil sie sich nicht „ausländischer Agent“ nennen wollten, sieht ein weiteres Gerichtsurteil, das gerade erst ergangen ist, 300.000 Rubel (rund 4.200 Euro) Strafe vor. Der Grund: Die Organisation hatte auch Stiftungsgelder aus dem Ausland erhalten. Im Russland unter Putin wird das geächtet.
Lange und zähe Verhandlungen über eine weitere Zusammenarbeit verliefen ergebnislos. Und das, obwohl der Fall zum Politikum wurde. Eine Petition brachte mehr als 80.000 Unterschriften. Menschenrechtsbeauftragte bis hinauf in den Kreml unterstützten die Museumsgründer – und tun es bis heute. Selbst ein Wink aus der Präsidentenadministration änderte nichts. Weil die Aktivisten die Pflege und Führung dieses Museums nicht mehr wahrnehmen können, haben sie vor kurzem ihre Selbstauflösung beschlossen.
Für Beobachter legt dieser Konflikt beispielhaft frei, wie unberechenbar die Politik unter Wladimir Putin geworden ist. Jens Siegert, Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau, sagt: „Wir erleben durch die Ukraine-Krise eine unheimliche Dynamisierung von Politik.“
Fast monatlich könne sich etwas ändern. Siegert glaubt, dass Verantwortliche und (Zweck-)Bündnisse die Politik miteinander ausfechten, die Wladimir Putin in groben Linien vorgebe. Ukraine-Krise und Krieg hätten diese Prozesse noch verstärkt. Für sein Vorgehen gegen Perm-36 könnten der Permer Gouverneur und sein Kulturminister demnach einen sicheren Hafen gefunden haben, der nicht aus Putins Dunstkreis sein muss: Womöglich Akteure mit Verbindung zu den Sicherheitsbehörden.
Es kämen widersprüchliche Signale aus Moskau – öffentlich und nicht-öffentlich, sagt auch Oleg Lejbowitsch, Professor für Erinnerungskultur an der Permer Akademie der Künste. Gepaart mit einem Eigeninteresse, gegen die Organisation Perm-36 vorzugehen, hätten die Verantwortlichen in Perm nur die Signale gehört, die sie hören wollten. Behilflich, so Lejbowitsch, sei der politische Trend, die Sowjethistorie zu rehabilitieren und die Opposition kleinzuhalten.
Denn damit bekamen Museumsgegner Auftrieb wie nie zuvor – und lieferten aus Sicht des Professors die nötigen Argumente. Junge radikale Sowjetnostalgiker, Kommunisten, einstige Wärter und Offiziere sahen die Sowjetunion beschmutzt. Den Dolchstoß brachte der Krieg. Einstige Insassen aus Perm-36 wurden als „ukrainische Faschisten“ verteufelt. Die russische Propaganda von der „faschistischen Junta“ als neue Machthaber in Kiew bot die passende Schablone.
Arseni Roginskij, führender Vertreter der Menschrechtsorganisation „Memorial“ in Moskau, zeigt sich besorgt. Besorgt darum, was die künftige tragende Idee sein werde. „Werden sie Helden sein oder Bösewichter?“, fragt er sich mit Blick auf die Weggesperrten von einst. Die neue Museumsleitung jedenfalls hat eine Ausstellung mit Biografien der „Politischen“ schnell entfernt, allen voran wegen der Ukrainer unter ihnen.
Sie überarbeiten das Konzept, erklärt die neue Kuratorin Jelena Mamajewa. Zum Gespräch hat sie ins Beamtenzimmer ihrer Chefin gebeten. „Es soll alles objektiv werden“, erklärt sie. Wie die Lebensbedingungen der einstigen Insassen wirklich waren und welche Gründe zu ihrer Inhaftierung führten, all das gehöre auf den Prüfstand. Die langjährigen Gegner hören das gern.
Für Tatjana Kursina bleibt derweil nur der Trost, das Lager als Mahnmal erhalten zu haben – auch wenn es als Museum im Begriff ist, seinen bisherigen Charakter zu verlieren.
Dieser Text wurde mit einem Reisestipendium von n-ost-unterstützt.
Quellen:
Persönliche Gespräche mit Beteiligten, Gegnern, Befürwortern
Mail-/Telefon-Kontakt mit Experten Memorial / Böll
Russische Presseberichte zu den Vorgängen
http://www.newsko.ru/articles/nk-2291520.html
https://meduza.io/news/2015/07/22/perm-36-oshtrafovana-za-otkaz-registrirovatsya-v-kachestve-inostrannogo-agenta