Serbien

Die neuen Nachbarn

„Wohin willst Du gehen“, wollte Milan wissen, als Hari zum ersten Mal vor ihm stand. Milan spricht weder Persisch noch Englisch, und deshalb hatte er erst auf Hari, dann auf den Boden gezeigt und schließlich irgendwohin in die Ferne gedeutet. „Kanada“, hatte Hari geantwortet. Aber es könne eigentlich auch jedes andere Land sein, wo es sich für ihn, einen Christen aus dem Iran, in Frieden leben lässt. Und so zuckte er schließlich mit den Schultern. Das war vor einer Woche. Seitdem schaut er täglich wenigstens für ein paar Minuten bei Milan vorbei. „Er ist ein guter Typ“, sagt Hari über Milan – und hat dabei doch nur eine vage Ahnung, warum auch Milan, ein Serbe, in einem serbischen Flüchtlingslager lebt.

Milan ist ursprünglich aus Kroatien. In Knin, in Mittel-Dalmatien, hat er als Lehrer für Biologie und Chemie gearbeitet – bis zum August 1995, als die kroatische Armee mit einer militärischen Großoffensive das Gebiet der selbsternannten „Serbischen Republik Krajina“ zurückeroberte. Der Krieg in Kroatien war beendet. Was für die einen Grund zur Freude war, bedeutete für andere den Verlust von Haus und Hof: Über 200.000 Serben flohen oder wurden vertrieben.

20 Jahre später wohnt Milan mit seiner Frau noch immer im Provisorium: im Flüchtlingslager Krnjaca, einer Ansammlung von 15 lang gestreckten Baracken, am Rande von Belgrad – obwohl die serbische Regierung seit Jahren verspricht, das Lager zu schließen und die Bewohner in Sozialwohnungen unterzubringen.


Alte und neue Bewohner des Flüchtlingslagers Krnjaca: Milan und Harri haben schnell eine gemeinsame Sprache gefunden. / Fotos: Marko Risovic, n-ost


Die Baracken füllen sich wieder

Milan sitzt unter einem Sonnenschirm und trinkt mit Hari Kaffee. Am frühen Vormittag waren sie zusammen Angeln. Schweigend hatten sie nebeneinander gesessen und auf den See geschaut. Jetzt ist es Mittag, die Sommerhitze drückt schwer auf die flachen Baracken. In einer bewohnt Milan mit seiner Frau ein kleines Zimmer, vielleicht gerade einmal zwölf Quadratmeter groß. Vor der Baracke hängt Wäsche zum Trocknen. Leute sitzen herum, starren, dösen oder unterhalten sich.

Etwa 700.000 Serben aus Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo waren als Folge der kriegerischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Gemessen an seiner Größe ist Serbien damit das Land mit den meisten Kriegsvertriebenen in Europa. Nur eine Minderheit ist zurückgekehrt, die meisten haben sich inzwischen ein neues Leben in Serbien aufgebaut. Und so hat sich auch das Lager Krnjaca nach und nach geleert – bis zum letzten Jahr, als Serbien eine neue Flüchtlingskrise erlebte.

Während sich die internationale Aufmerksamkeit auf die Tragödien im Mittelmeer konzentriert, ist Serbien zu einem wichtigen Transitland für Flüchtlinge auf der neuen Westbalkan-Route geworden, die von Griechenland oder Bulgarien über Mazedonien und Serbien nach Ungarn verläuft. 38.000 Menschen haben alleine in der ersten Jahreshälfte Asyl in Serbien beantragt, im ganzen Jahr 2013 waren es lediglich 5.000. Und so hat Milan mitverfolgen können, wie sich nach und nach die Baracken wieder füllten. Seine neuen Nachbarn kommen jetzt aus Syrien, Afghanistan, Irak und afrikanischen Ländern.


Göttlicher Beistand

Oder aus dem Iran wie Hari. Als Christ wurde er dort verfolgt, sagt er. Den Boden Europas hat er zum ersten Mal auf der griechischen Insel Kos betreten, nachdem ihn Schmuggler von der Türkei aus über das Meer gebracht hatten. Dort hat er vier Jahre gelebt. Er hat versucht, sich mit kleinen Jobs über Wasser zu halten, ist immer wieder im Gefängnis gelandet, weil er keine Dokumente hatte – bis er sich schließlich wieder auf den Weg machte: nach Mazedonien, immer zu Fuß auf den Zuggleisen Richtung Norden. Auf derselben gefährlichen Strecke sind jüngst 14 Flüchtlinge von einem Zug überrollt worden.

Viel hat Hari nicht dabei: Ein paar Kleidungsstücke und sein Handy. Auf dem kann er Milan Videos seiner Reise zeigen, wie er alleine durch die serbischen Felder gelaufen ist, seinen Kopf mit einem Tuch vor der prallen Sonne geschützt. Und immer wieder hört man, wie er beim Laufen Gebete vor sich hin murmelt. Hari ist sich deshalb auch sicher, dass es göttlicher Beistand war, der ihm diese Frau geschickt hatte, als ihm das Geld ausging und er hungrig auf dem Bahnsteig in Nis stand. Sie gab ihm zu Essen und zu Trinken – und ein Zugticket nach Belgrad.


Aus dem Provisorium ist ein Dauerzustand geworden: Arsen Zecevic wartet noch immer darauf, wieder an einem normalen Ort leben zu können. / Foto: Marko Risovic, n-ost

Milan sagt, er könne verstehen, dass Menschen so viel auf sich nehmen, um ein besseres Leben zu finden. Auch unter den anderen gut 200 Alteingesessenen ist kein negatives Wort über die neuen Nachbarn zu hören. „Manche sagen sogar Guten Tag auf Serbisch“, sagt Arsen Zecevic. Auch er ist wie Milan vor 20 Jahren aus Kroatien vertrieben worden. „Es sind keine schlechten Leute“, bestätigt Milan. Und irgendwie seien sie ja alle in der gleichen Situation.


Kaum Chancen auf faires Asylverfahren

Genau genommen hat Milan bereits drei Mal unfreiwillig das Dach über dem Kopf verloren. Das erste Mal durch ein Erdbeben, das zweite Mal durch die kroatische Armee, das dritte – in einem anderen Flüchtlingslager – durch einen Stromschaden. Die Baracke ging in Flammen auf. Jetzt, wo sie hier direkt an der Donau leben, können eigentlich nur noch ein Meteorit und eine Überschwemmung kommen, sagt er. Doch mit seinem Humor hat es spätestens in der Nacht ein Ende. Bis heute hat Milan regelmäßige Albträume, in denen er die Ereignisse der Vergangenheit noch einmal durchlebt. „Nur wenn ich tagsüber fischen war, kann ich loslassen“, sagt er. „Dann kann ich nachts ruhig schlafen.“

Auch wenn sie sich nur mit Händen und Füßen verständigen können: Er fühlt eine gute Verbindung zu Milan, sagt Hari. Generell hat er keinen schlechten Eindruck von Serbien, zumindest wenn er die Situation mit der im EU-Land Griechenland vergleicht. Oder mit dem, was ihm seine Zimmergenossen erzählen, die über Bulgarien nach Serbien gekommen sind, wo Flüchtlinge einfach weggesperrt oder in menschenunwürdige Lager gesteckt werden. Auch der Leiter des Lagers Krnjaca kümmert sich: Am Tag zuvor hatte er ein Fußballspiel zwischen den Asylbewerbern und dem lokalen Fußballklub organisiert.

Allerdings mehren sich auch in Serbien die Berichte von staatlicher Willkür gegenüber Flüchtlingen. Vor allem an der Grenze zu Mazedonien kommt es zu Misshandlungen und Schikanen, wie Amnesty International vor kurzem angeprangert hat. Außerdem gibt es kaum eine Chance auf ein faires Asylverfahren, das ihnen nach internationalem Recht zusteht. 2014 erhielt genau ein einziger Antragsteller Asyl in Serbien.


Die schönsten Farben der Welt

Doch bleiben will in Krnjaca ohnehin niemand. Statt den Abschluss des Asylverfahrens abzuwarten, setzen die meisten ihren Weg schon nach kurzer Zeit wieder in Richtung der wohlhabenderen EU-Länder wie Deutschland, Österreich oder Schweden fort.

Die serbischen Flüchtlinge dagegen wollen 20 Jahre nach Kriegsende endlich raus aus dem Provisorium. Seit kurzem gibt es für sie wieder einmal Hoffnung. Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hat angekündigt, dass Ende 2016 die letzten Flüchtlinge aus Kroatien ihren internationalen Flüchtlingsstatus verlieren werden. Die Finanzierung des Lagers wird dadurch auslaufen. Die Regierung steht dadurch plötzlich unter Druck: Spätestens 2016 sollen nun die lange versprochenen Sozialwohnungen gebaut und das Lager geschlossen werden. Bereits jetzt sind unter den Flüchtlingen die Bewerbungsunterlagen im Umlauf.


Menschen, die während der Jugoslawienkriege ihre Heimat verlassen mussten, leben hier zusammen mit Flüchtlingen aus den aktuellen Krisenregionen. / Foto: Marko Risovic, n-ost

Und so hofft Milan, doch noch einmal ein normales Leben führen zu können: Morgens aufstehen, seiner Frau einen Kaffee machen und gemeinsam auf „die schönsten Farben der Welt blicken“, wie er bedächtig sagt. Die Farben der eigenen vier Wände.

Aber auch unter den Migranten hat sich Unruhe breit gebracht. Wie ein Lauffeuer hat sich die Nachricht herumgesprochen, dass Ungarn an der Grenze zu Serbien einen vier Meter hohen Zaun errichten will. Außerdem wurde ein Gesetz verabschiedet, dass es der ungarischen Regierung erlaubt, Asylanträge von Flüchtlingen abzulehnen, die über Serbien eingereist sind und sie umgehend wieder abzuschieben. Hari hätte eigentlich gerne noch ein wenig bleiben wollen. „Aber jetzt müssen wir uns wohl beeilen“, sagt er.


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