Türkei

Zuflucht in der weißen Stadt im Sand

Weiße Zelte, so weit das Auge reicht, gesichert mit Stacheldraht und mitten im Nirgendwo. Zwischen der syrischen Grenze und der türkischen Stadt Sanliurfa hat die Türkei eine Zeltstadt aus dem Boden gestampft, die Platz für 35.000 Menschen bietet. Täglich fliehen weitere Menschen aus dem benachbarten Kobane und anderen syrischen Städten vor dem Krieg und dem Terror des IS dorthin. Für 25.000 Menschen ist die weiße Stadt im Sand zurzeit ihr Zuhause.

Es gibt Schulen, Moscheen, Supermärkte und Spielplätze. Im Lager herrscht gedämpfte Stimmung. Jeder, der hier lebt, hat Freunde und Angehörige verloren, viele haben die Brutalität des Krieges am eigenen Leib erfahren. In der Türkei bezeichnet man die Ankömmlinge als „Gäste“, sie werden medizinisch versorgt und dürfen arbeiten. Weil in der Grenzregion viele Menschen zweisprachig sind, stehen die Chancen, etwas Geld zu verdienen gar nicht schlecht.


Immer neue Flüchtlingsströme

Helen Clark, die Leiterin des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen, beziffert die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien, die zur Zeit in der Türkei leben, auf insgesamt 1,8 Millionen. Dazu kommen 300.000 Iraker. Zum Vergleich: EU-weit haben seit 2011 weniger als 280.000 Syrer einen Asylantrag gestellt. Clark betont, dass kein anderes Land der Welt so viele Menschen aus Krisenregionen aufgenommen hat wie die Türkei. Bis Ende des Jahres könnte die Zahl weiter steigen, bis auf 2,5 Millionen. Jedes Mal, wenn die Gewalt in Syrien eskaliert, kommt es zu neuen Flüchtlingsströmen. Viele Menschen sind dann gezwungen, im Freien zu übernachten.

Immerhin über 5,3 Milliarden Euro hat die Türkei bereits dafür ausgegeben, damit diese Menschen versorgt sind. Mit lediglich rund 268 Millionen Euro hat das Ausland einen Beitrag geleistet, das menschliche Leid zu lindern. Clark betont, dass die Zelt- und Containerstädte in der Türkei zu den modernsten der Welt gehören.


Zeltstadt im Nichts: das Camp vom türkischen Katastrophenschutz AFAD bei Suruc bietet Platz für 35.000 Menschen. In der Türkei leben derzeit etwa 1,8 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. / Foto: Claws Tohsche 


Auf eigene Faust ins Land

Weil ein Ende des Flüchtlingsstroms nicht absehbar ist, sieht sich der türkische Katastrophenschutz AFAD gezwungen, immer neue Zeltstädte aus dem Boden zu stampfen: Im Grenzort Kilis, in der Nähe der Provinzhauptstadt Gaziantep, bereitet man gerade Unterkünfte für weitere 55.000 Menschen vor.

„Wir werden die Lager offen halten, solange hier Menschen leben. Einige kehren trotz allem nach kurzer Zeit nach Syrien zurück, andere versuchen ihr Glück auf eigene Faust in den Städten“, erklärt Ahmet Han Özdemir, der Leiter der Zeltstadt bei Suruc, in der Nähe von Sanliurfa und fügt nachdenklich hinzu: „Aber bis an dieser Zeltstadt kein Bedarf mehr besteht – das kann sehr lange dauern“.

Auch in der Metropole Istanbul, rund 1.300 Kilometer von Sanliurfa entfernt, sind die Menschen aus Syrien angekommen. Läuft man beispielsweise durch den Stadtteil Aksaray, sticht ins Auge, dass Restaurants und Läden Arabisch beschriftet sind. Und man hört Gesprächsfetzen im sanften, levantinischen Dialekt. Aber nicht nur dort, überall in der Stadt trifft man auf Flüchtlinge. 300.000 Männer, Frauen und Kinder hoffen in Istanbul auf ein neues Leben oder darauf, bald in ihre Heimat zurückkehren zu können.


Über die Hälfte sind Kinder oder Jugendliche

Über die Hälfte der Flüchtlinge in der Türkei sind laut Angaben der UNHCR minderjährig. Staatliche und private Initiativen versuchen diese Kinder aufzufangen, ihnen den Schulbesuch zu ermöglichen oder wenigstens Workshops anzubieten. Schätzungen nach gibt es in Istanbul rund 60 Schulen, viele davon privat geführt, die nicht dem türkischen Lehrplan unterliegen, sondern arabischsprachige Kinder in ihrer Muttersprache unterrichten

Melonenkäufer und Verkäufer vor dem AFAD Flüchtlingscamp bei Suruc. In der Türkei leben derzeit etwa 1,8 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Es entstehen immer mehr neue Flüchtlingslager entlang der Grenze./ Foto: Claws Tohsche 

Auf eine solche Schule gehen auch die Töchter von Samer Al Kadri. Der Syrer ist Verleger und betreibt außerdem einen Buchladen in Istanbul. Er schwärmt von der Stadt: „So vieles erinnert mich an Damaskus“. Denn dort will er ganz bald wieder hin. Bis dahin versucht er seine Kultur zu vermitteln: „Die Welt hat ihren Blick auf uns Syrer geändert. Niemand nimmt mehr unsere Kultur und Talente wahr“, sagt er traurig.

Helen Clark von den Vereinten Nationen lobt das Engagement der Türkei. Gleichzeitig erinnert sie daran: „Vor allem die reichen Länder müssten viel, viel mehr tun. 


Quellen:

http://data.unhcr.org/syrianrefugees/regional.php

http://www.hurriyet.com.tr/dunya/28845005.asp

http://haber.sol.org.tr/turkiye/afad-yeni-bir-goc-dalgasi-bekliyoruz-kiliste-55-bin-kisilik-kamp-kurduk-122060 (Die Links von Haber Sol verschieben sich manchmal, dann sind sie im Nachhinein nicht abrufbar)


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