„Letztlich geht es um Liebe“
n-ost: Über Ihr Gewinnerfoto, das derzeit im Rahmen der World Press Photo Ausstellung in Berlin zu sehen ist, wurde gesagt, dass es kein typisches Pressefoto sei. Was ist an diesem Bild so untypisch?
Mads Nissen: Das stimmt. Viele der bisherigen Gewinnerfotos bei World Press Photo kamen aus Krisengebieten, waren eng verbunden mit Gewalt. Mein Foto ist anders: Zum einen ist es ein zeitgenössisches Thema, das auch noch viele Jahre aktuell bleiben wird. Zum anderen vermittelt es Liebe. Das habe ich in früheren Siegerfotos nicht gesehen.
Wie ist das Foto entstanden?
Nissen: Ich hatte schon eine Weile zum Thema Homosexualität und LGBT gearbeitet, fand aber irgendwann, dass etwas fehlte. Letztlich geht es mir dabei weder um Politik noch Religion, sondern um die Liebe zwischen zwei Menschen. Selbst wenn du nicht russisch oder schwul bist, kannst du dich mit diesem Gefühl identifizieren. Du hast einen Bezug zur Geschichte, auch wenn diese keinen direkten Bezug zu deinem Leben hat. Danach habe ich gesucht.
Hatte Ihr Sieg bei World Press Photo Konsequenzen für Jon und Alex?
Nissen: Ich war immer sehr vorsichtig und habe Fotos nicht ohne ihre Erlaubnis veröffentlicht. Jon und Alex waren einverstanden, aber natürlich haben sie damals nicht mit einer solchen Aufmerksamkeit gerechnet. Als ich die Nachricht bekam, habe ich die beiden sofort kontaktiert, sie sozusagen vorgewarnt. Bisher gab es keine negativen Folgen für Jon und Alex, aber natürlich ist es in Russland sehr gefährlich schwul zu sein. Die beiden wissen das besser als ich und haben mit diesem Risiko schon lange vor meinem Foto gelebt.
Warum haben Sie sich für Russland entschieden, um das Thema aufzugreifen?
Nissen: Eigentlich hat Russland sich für mich entschieden. Ich war ohnehin im Land, um an einer Geschichte zu arbeiten und junge Fotografen zu unterrichten. An einem Nachmittag war ich auf einer LGBT-Demonstration. Dort habe ich erlebt, wie ein junger schwuler Mann, Pavel, von einem Homophoben angeschrien und ins Gesicht geschlagen wurde, direkt vor meinen Augen. Das war der Moment, in dem aus journalistischem Interesse ein persönliches geworden ist.
Woher kommt dieser Hass gegen Homosexuelle in Russland?
Nissen: Diese Frage habe ich mir auch schon oft gestellt. Es gibt verschiedene Meinungen dazu, deshalb werde ich mich nicht auf einen Aspekt festlegen. Die Russisch-Orthodoxe Kirche spielt eine wichtige Rolle, genauso wie Putin und seine Partei. Viele sagen, dass die Hetze gegen Homosexuelle ein Weg ist, um eine starke russische Identität aufzubauen.
World Press Photo Ausstellung in Berlin
Wo: Willy-Brandt-Haus, Stresemannstraße 28 in 10963 Berlin
Wann: Dienstag-Sonntag, 12-20 Uhr (noch bis zum 28.06.)
Weitere Ausstellungsorte in Deutschland und Europa finden Sie hier.
Seit Juni 2013 ist sogenannte „Homosexuellen-Propaganda“ in Russland strafbar. Was hat sich durch das Gesetz verändert?
Nissen: Bevor das Gesetz national gültig wurde, galt es schon in St. Petersburg, wo ich vor allem gearbeitet habe. Es besagt, dass es verboten ist, „nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ mit Minderjährigen zu haben. Nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen – was soll das bedeuten? Das ist sehr vage formuliert, was typisch für russische Gesetze ist. Die Behörden können sie so auslegen, wie es ihnen gerade passt.
Die Behörden haben zum Beispiel den für Ende Mai geplanten „Moscow Pride“ verboten. Welches Risiko gehen Homosexuelle ein, wenn sie öffentlich ihre Rechte einfordern?
Nissen: Wir müssen hier zwischen der Polizei und homophoben Gruppen unterscheiden. Dass Homophobe Schwule und Lesben auf Demonstrationen angreifen heißt nicht automatisch, dass die russischen Behörden ihr Vorgehen unterstützen. Ich war in St. Petersburg bei pro-LGBT Protesten, die nicht verboten waren. Es ist in Russland nicht per se illegal, über Homosexualität zu sprechen, nur eben nicht mit Minderjährigen. Aber wie gesagt: Die Gesetzeslage ist da sehr vage.
In Ihrer Bildstrecke zeigen Sie auch Videomaterial dieser homophoben Gruppen. Darin ist zu sehen, wie Schwule misshandelt und gedemütigt werden. Warum haben Sie diese Bilder nochmal aufgegriffen?
Nissen: Das war ein echtes Dilemma für mich. Diese Videos sind ein weitverbreitetes Phänomen in Russland. Ich habe einige davon gesehen und war zutiefst schockiert. Die Welt musste davon erfahren, die Frage war nur wie. Ich vergleiche das mit einem Terroranschlag: Natürlich laufen wir Gefahr, dass wir den Terroristen genau die Aufmerksamkeit geben, die sie wollen. Wir können das Ganze aber in einem anderen Kontext präsentieren. Das habe ich gemacht, und dadurch lässt sich die Verwendung für mich rechtfertigen. Nach den Opfern in diesen Videos habe ich vergeblich gesucht.
Welche Konsequenzen ziehen russische Homosexuelle für sich aus diesen Feindseligkeiten?
Nissen: Ich habe den Eindruck, dass sich eine neue Generation Homosexueller entwickelt. Sie sind im post-sowjetischen Russland aufgewachsen und kennen die Freiheiten in Westeuropa. Sie wollen sich nicht länger verstecken – auch wenn das bedeutet, dass sie verhaftet oder verprügelt werden können. Aber natürlich gibt es immer noch sehr viele, die genau das fürchten und sich deshalb zurückziehen.
Haben Sie mit Ihrem Foto von Jon und Alex selbst Hass zu spüren bekommen?
Nissen: Es gab homophobe Reaktionen, ein paar Mails. In manchen Ländern, wie zum Beispiel Iran, wurde das Bild zensiert. Vor der Eröffnung der World Press Photo Ausstellung in Moskau im Mai zogen alle Sponsoren ihre Gelder zurück – offiziell aus finanziellen Gründen. Auch wenn Russland gerade in einer wirtschaftlichen Krise steckt, ist es für mich offensichtlich, dass das eine politische Entscheidung war. Letztlich habe ich aber genau diese Reaktionen erwartet. Deshalb habe ich die Bildstrecke überhaupt gemacht.
Ich habe gelesen, dass ein schwules Paar aus St. Petersburg dieses Jahr bei Ihnen in Dänemark heiraten wollte. Hat das geklappt?
Nissen: Ja! Mein Freund Dimitri und sein Ehemann Ivano. Immer wenn ich in Russland bin, schlafe ich auf ihrer Couch. Über sie habe ich auch Jon und Alex kennengelernt. Die Trauung war im Mai in Kopenhagen. Ich war ihr Hochzeitsfotograf.
Zur Person:
Mads Nissen studierte bis 2007 an der Danish School of Journalism Fotojournalismus und arbeitet derzeit als Fotograf für die dänische Tageszeitung Politiken in Kopenhagen. Er beschäftigt sich mit zeitgenössischen Themen wie Überpopulation, Menschenrechtsverletzungen und der zerstörerischen Beziehung zwischen Mensch und Natur. Von 2007 bis 2009 fotografierte er in China die Schattenseiten des ökonomischen Aufstiegs. Seine Arbeiten sind u.a. in Time, Newsweek, Der Spiegel und Stern erschienen.