Bayerischer Löwe und russischer Bär
Es liegt viel Nostalgie über diesem Abend im Berliner Hotel Adlon. Der Münchner Keyser-Verlag und das Deutsch-Russische Forum haben zu einer ungewöhnlichen Buchvorstellung in den eleganten Palais-Saal gebeten. Wilfried Scharnagl (76), erzreaktionärer langjähriger Chefredakteur der CSU-Parteizeitung „Bayernkurier“ und früher enger Weggefährte von Franz Josef Strauß, hat das Buch „Am Abgrund“ verfasst: eine Streitschrift für einen anderen Umgang mit Russland.
An seiner Seite sitzt sein früherer politischer Gegner, der SPD-Politiker Egon Bahr (93). Doch heute sind die beiden alten Herren sich vor allem einig und ernten viel Applaus von den rund 300 geladenen Gästen, wenn sie unter Kronleuchtern die guten alten Zeiten des letzten Jahrhunderts hochleben lassen, als die bipolare Welt des Kalten Krieges noch einfach und überschaubar schien.
Scharnagls eigene Erfahrung mit Russland liegt schon weit zurück im Jahr 1987. Damals war der Journalist und CSU-Politiker mit von der Partie, als Strauß einer überraschenden Einladung des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow nach Moskau folgte. Der Flug in „das Herz des roten Imperiums“, wie Scharnagel im Buch noch einmal beschreibt, erregte damals auch deshalb einiges Aufsehen, weil Strauß die neunsitzige Chesna selbst steuerte. Wegen Sturmwarnungen und schlechter Wetterbedingungen war der Flughafen Scheremetjewo eigentlich geschlossen, aber da der Treibstoff der kleinen Maschine nicht mehr ausreichte, um nach Minsk zurückzufliegen, landete Strauss in Moskau trotz Eis und Schnee.
Kolonialisatoren in Elmau
„Das waren tolle Tage“, erinnert sich Scharnagel an die zweitägige Visite, die sein Verhältnis zu Russland offenbar langfristig prägte. „Wenn der bayerische Löwe und der russische Bär friedlich auf einer Wiese äsen können – das war die Vision damals.“
Diese Vision ist dem Bayern offenbar im Kopf geblieben, denn anders lässt es sich nicht erklären, wie er auf rund 170 Seiten ausführt, dass Putin ein Mann sei, ohne den Frieden in Europa nicht möglich sei und mit dem man eng zusammenarbeiten müsse. Zwar räumt auch Scharnagl ein, dass Putin ein „Autokrat“ sei, aber der innenpolitischen Repression in Russland scheint ihn ebenso wenig zu interessieren wie die militärische Aggression gegen die Ukraine.
„Ich hätte es toll gefunden, wenn Putin im oberbayerischen Elmau dabei wäre“, kritisiert Scharnagl stattdessen, dass der russische Präsident aus der G-8 ausgeschlossen wurde und beim nächsten Gipfel nicht zu den Gästen zählt. Ihn habe bei der Münchner Sicherheitskonferenz aufgebracht, dass US-amerikanische Senatoren wie „Kolonialisatoren“ aufgetreten seien, sagt Scharnagl und beklagt die „amerikanische Dominanz“.
Eintracht alter Herren
Bahr räumt zwar ein, dass er sich vor 50 Jahren nicht habe vorstellen können, einmal ein Buch von Scharnagel vorzustellen. „Aber ich kann doch nicht nur, weil Herr Scharnagel das sagt, dagegen sein“, sagt der SPD-Politiker. Dessen Buch fülle eine Lücke „im einseitigen Bild von Russland und Putin.“
Zuspruch ernten solche Positionen auch bei den Sponsoren des Abends: Brun-Hagen Hennerkes von der Stiftung Familienunternehmen lobt Scharnagls Plädoyer für die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland, denen im Buch unter dem Motto „Schaden für alle, Nutzen für niemand“ ein ganzes Kapitel gewidmet ist. „Die deutschen Familienunternehmen wünschen sich nichts so sehr wie die baldige Abschaffung aller Sanktionen“, sagt Hennerkes und erntet donnernden Applaus im Saal.
Die Eintracht der alten Herren wird auch vom Moderator des Abends, dem vor wenigen Tagen in den Ruhestand entlassenen Leiter des ARD-Hauptstadtbüros, Ulrich Deppendorf (65), nicht etwa durch kritische Fragen gestört. Auch Deppendorf ist kein Russlandkenner, sonst wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass Scharnagel für sein Buch auf Recherchen in Russland und in der Ukraine völlig verzichtet hat. „Ich habe alle mir zugänglichen Quellen genutzt“, sagt Scharnagl eher unwillig auf die Frage der Autorin nach der Veranstaltung, ob das Buch eigentlich allein am Schreibtisch entstanden sei und warum er als früherer Journalist auf Primärquellen völlig verzichte.
Diskussionen nicht vorgesehen
Auch dem Verleger des Keyser-Verlages, Detlef W. Prinz, war das egal. Er lobt in der Eingangsrede vor allem, in welch kurzer Zeit Scharnagl sein Buch verfasst habe. Verkaufsfördernd dürfte sich auch das Vorwort von Gorbatschow auswirken, der dem Autor bescheinigt, aktuelle, kontrovers diskutierte und schmerzhafte Fragen zu berühren.
Doch an diesem Abend stört nichts die einvernehmliche Atmosphäre. Diskussionsbeiträge aus dem Publikum sind gar nicht erst vorgesehen. Er habe mit großem Genuss diese Debatte der „Ostalgiker“ verfolgt, zeigt sich der SPD-Politiker und Vorsitzende des Russischen Forums, Matthias Platzeck, zum Schluss mit der Veranstaltung hochzufrieden und entlässt alle zu Häppchen und Sekt ins Foyer.