Haben wir den Krieg gewonnen oder verloren?
Mein Vater meldete sich freiwillig mit 18 Jahren. Er diente auf einem U-Boot in der Ostsee. Als ich klein war, wohnten wir in einem Keller auf der bekannten Moskauer Arbat-Straße, über meinem Bettchen hing ein Foto seines U-Boots.
Ich war furchtbar stolz, dass mein Vater ein U-Boot hatte, immerzu zeichnete ich das Foto in meinem Schulheft ab. Jedes Jahr zum Tag des Sieges am 9. Mai holte Vater seine Matrosenuniform aus dem Schrank – die er wegen seines wachsenden Bauchs regelmäßig umnähen ließ – und setzte alle seine Orden darauf. Es war so wichtig für mich, stolz auf meinen Vater zu sein. Es hat einen Krieg gegeben, und Papa hat ihn gewonnen!
Der Krieg ließ ihn nicht mehr los
Als Erwachsener verstand ich, dass mein Vater 1944 bis 1945 deutsche Schiffe versenkte, die Flüchtlinge aus Riga und Tallinn evakuierten. Hunderte, wenn nicht tausende Menschen fanden in der Ostsee den Tod. Dafür bekam Vater seine Orden. Ich bin lange nicht mehr stolz auf ihn, verurteile ihn aber nicht. Es herrschte Krieg.
Nach dem Krieg trank er. Genau wie alle seine Kameraden von der U-Boot-Flotte. Vermutlich konnten sie nicht anders. Er war doch noch ein Junge, als er monatelang im Einsatz auf hoher See war, in ständiger Angst, in einem eisernen Sarg unterzugehen. So etwas lässt einen nicht mehr los.
Als in der Amtszeit Gorbatschows der Hunger anfing, bekam Vater als Kriegsveteran Lebensmittelrationen, darunter auch Lebensmittel aus Deutschland. Für ihn war das eine persönliche Beleidigung. Er und seine Freunde fühlten sich zeitlebens als Sieger, und nun ernährte sie der besiegte Feind mit Almosen. Als Vater uns das erste Mal die Lebensmittelration brachte, betrank er sich und schrie: Wir haben doch gesiegt! Dann wurde er still und weinte, und fragte Gott weiß wen, wendete sich aber an mich: Sag, haben wir den Krieg gewonnen oder verloren?
Der Krieg ist ein bewährtes Rezept
In seinen letzten Jahren zerstörte er sich mit Wodka. Alle seine Kameraden hatten sich da längst ins Grab gesoffen. Vermutlich beeilte sich Vater, seine Kampfgefährten wiederzusehen. Von seinem U-Boot war er der letzte Überlebende. Im Moskauer Krematorium verbrannte er in seiner Seemannsuniform.
An diesem 9. Mai, 70 Jahre nach Kriegsende, werden einige der letzten Veteranen nach der Überprüfung durch den Sicherheitsdienst auf dem Roten Platz zusammengebracht. Sie leben mittlerweile in einem Russland, in dem Putin alles erreicht hat, was ein Diktator sich wünschen kann. Das Volk liebt ihn, die Feinde fürchten ihn. Sein Regime fußt nicht auf wackligen Paragraphen der Verfassung, sondern auf unwandelbaren Gesetzen der Ergebenheit eines Vasallen zu seinem Souverän – vom Fuß der Pyramide bis nach ganz oben.
Putins Diktatur des 21. Jahrhunderts vermeidet alle Fehler ihrer Vorgänger. Die Grenzen sind offen, alle Unzufriedenen werden unzweideutig aufgefordert, das Land zu verlassen. Die neue Auswanderungswelle wächst mit jedem Monat. Besonders die Elite verlässt das Land: Wissenschaftler, IT-Fachleute, Journalisten, Ingenieure, Unternehmer. Diese katastrophalen menschlichen Verluste schwächen das Land und stärken das Regime.
Für jene, die bleiben, gibt es ein bewährtes Rezept: den Krieg. Patriotische Hysterie im Fernsehen ist die Wunderwaffe des Regimes. Dank des „Zombie-Kastens” ergibt sich für die Bevölkerung ein ideales Weltbild: Der Westen will uns vernichten. Wir sind gezwungen – wie schon unsere Großväter – einen heiligen Krieg gegen den Faschismus zu führen, bereit, alles für den Sieg zu opfern. Gegen diesen Krieg sind nur „Nationalverräter”.
Gefühle werden missbraucht
Unter jeder Ideologie – orthodoxes Christentum, Kommunismus, und wieder Christentum – manipulierte das Regime in Russland sein Volk mit Patriotismus. Mein Vater war sechs, als sie seinen Vater verhafteten. Mein Großvater ging im Gulag zugrunde. Der Sohn will stolz auf seinen Vater sein, doch sein Vater ist Volksfeind. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, hörte das drangsalierte Volk plötzlich aus den Lautsprechern: „Brüder und Schwestern!”
Die Niedertracht des jeweiligen Regimes besteht darin, dass es stets ein wunderbares Gefühl missbrauchte und auch weiterhin missbrauchen wird: die Liebe zur Heimat, die Bereitschaft, alles für sie zu opfern. Die Diktatur tritt an die Stelle der Heimat. Vater zog in den Krieg, um seine Heimat zu verteidigen, doch er verteidigte das Regime, das seinen Vater umbrachte.
Wünscht man seiner Heimat den Sieg oder die Niederlage? Eine seltsame Frage für jemanden, der sein Vaterland liebt. Die Frage stellt sich allerdings als gar nicht seltsam heraus, wenn es um eine Heimat geht, die jahrhundertelang weder das eigene Volk noch die Anderen leben ließ. Im Bewusstsein des Volkes bleibt unklar, wo die Heimat aufhört und das verbrecherische Regime beginnt – alles ist verwachsen. Patriotismus ist Russlands heilige Kuh, die Menschenrechte und Respekt vor dem Individuum wiederkäut.
Der Sieg 1945 bestärkte die Sklaverei
Die wichtigste russische Frage lautet: Wenn das Vaterland ein Monster ist, muss man es lieben oder hassen? Alles kommt hier zusammen, untrennbar verbunden. Vor langer Zeit formulierte es die russische Poesie folgendermaßen: „Jenes Herz kann nicht lernen zu lieben, das müde geworden ist zu hassen!”
Auch der berüchtigte russische Serienmörder Andrej Tschikatilo war Vater, vielleicht sogar kein schlechter Vater. Wie soll sich sein Sohn zu ihm stellen? Tschikatilo tötete dutzende Menschen. Mein Vaterland dagegen brachte Abermillionen um, fremde und eigene Kinder, wobei seine eigenen sogar in der Überzahl sind.
Und es hört nicht auf: Vater kämpfte gegen das Böse des Faschismus, aber ein anderes Böses nutzte ihn aus. Er und Millionen sowjetischer Soldaten waren Sklaven, und sie brachten der Welt nicht die Befreiung, sondern neue Sklaverei. Das Volk opferte alles für den Sieg, aber die Früchte dieses Sieges waren Armut und noch größere Unfreiheit. Der Sieg gab den Sklaven nichts, abgesehen vom Gefühl der Größe des Imperiums ihres Herrn. Der große Sieg im Jahr 1945 bestärkte bloß ihre große Sklaverei.
Sie stahlen den Sieg
Im Ukraine-Konflikt ruft man die Russen wieder in den Kampf gegen den Faschismus. Wieder einmal greift ein Diktator für seinen Machterhalt zum Patriotismus. Hysterisch prasselt es von den Bildschirmen herab. Die Rede ist vom „großen Russland”, von der „Rückkehr der russischen Erde”, dem „Schutz der russischen Sprache”, oder dem „Sammeln der russischen Welt”. Und immer wieder lautet der Appell: „Lasst uns die Welt vor dem Faschismus retten.”
Mit der Liebe zum Vaterland köderten alle Regime die Menschen, und sie werden es weiterhin tun. Wieder einmal ruft eine Diktatur ihre Untertanen zum Verteidigungskampf auf, um sich selbst zu schützen. Der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wird dabei gnadenlos ausgenutzt. Sie stahlen meinem eigenen Volk das Erdöl, sie stahlen die Wahlen, sie stahlen das Land. Und sie stahlen den Sieg.
Die Geschichte wird wieder einmal umgeschrieben, es bleiben nur der militärische Ruhm und die großen Siege. Das ruhmreiche Zurückholen der Krim steht schon als Kapitel in den Geschichtsbüchern. Das nächste Kapitel wartet darauf, geschrieben zu werden: Wie der verlorene Sohn kriecht Kiew auf Knien zurück in die Umarmung der russische Welt.
Putin braucht den Kriegszustand
Der Abschaum, der in Russland an der Macht ist, hetzte unsere Völker aufeinander. Russen und Ukrainer aufeinander zu hetzen, das ist eine unverzeihliche Niedertracht. Mein Vater war Russe, meine Mutter Ukrainerin. Manchmal denke ich: Gut, dass sie schon tot sind und nicht wissen, dass Russen und Ukrainer einander morden.
Die Annexion der Krim brachte Putin eine Patriotismuswelle. Weil diese Welle bereits abebbt, wird er eine neue brauchen. Die Diktatur braucht nicht einzelne Kampfhandlungen, sie braucht den Kriegszustand. Das Schlimmste steht uns deshalb noch bevor.
Der 9. Mai in Putins Russland hat nichts mit dem Sieg des Volkes zu tun, dem Sieg meines Vaters. Es ist kein Tag des Friedens und des Gedenkens an die Opfer. Es ist ein Tag des Waffengeklirrs, ein Tag der Aggression, ein Tag des Krieges mit Fremden und Einheimischen, ein Tag der geheimen Leichentransporte, ein Tag der großen Lüge und der großen Niedertracht.
Den Krieg haben wir verloren
Natürlich wünsche ich meiner Heimat den Sieg. Aber was wird dieser Sieg sein? Jeder Sieg Hitlers war eine Niederlage für das deutsche Volk. Der Fall Nazi-Deutschlands wiederum war ein großer Sieg für die Deutschen selbst. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte zeigten sie, wie ein Volk wiederauferstehen und leben kann – ohne Fieberträume vom Krieg.
Russland dagegen ist vor unseren Augen aus dem 21. Jahrhundert ins Mittelalter zurückgefallen. Es ist unmöglich, in einem Land durchzuatmen, wo die Luft mit Hass verpestet ist. Auf den großen Hass folgte in der Geschichte immer das große Blut. Was erwartet mein Land? Wird es zu einem riesigen Donbass?
Vater, den Krieg haben wir verloren.