Fiona Hill: „In Russland gibt es viele Putins“
n-ost: Zusammen mit Ihrem Kollegen Clifford Gaddy haben Sie ein beachtetes Buch über Präsident Wladimir Putin geschrieben. Wie viel Macht hat der russische Staatschef?
Fiona Hill: Putin kann nicht einfach tun, was er will. Das ist anders als in der Stalin-Ära, als der Staatschef einen Befehl ausgab und dieser immer genauso ausgeführt wurde. Putin entspricht nicht dem traditionellen Image eines Diktators. Er beschwert sich häufig darüber, dass er etwas anordnet und es dann nicht geschieht. In Russland läuft nicht alles nach Plan.
Werden diese Schwierigkeiten unterschätzt? Deutsche Medien neigen dazu, die russische Politik sehr stark auf Putin zu fokussieren.
Hill: Putin ist natürlich die Stimme, die zählt. Er trifft die großen Entscheidungen, er setzt die Strategie. Aber es gibt auch einen „kollektiven Putin“ um ihn herum. Verschiedene Leute können seine Entscheidungen auf unterschiedliche Weise beeinflussen. Und wenn man das ganze Land vor Augen hat, gibt es überall lauter kleine Putins. Schauen Sie sich den tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow an. Er ist das beste Beispiel für völlige Loyalität gegenüber Putin, nicht aber gegenüber dem russischen Staat. Kadyrow macht in Tschetschenien, was er will. Das ist ein extremes Beispiel, aber ähnliches finden sie auch anderswo.
Ist Russland noch eine Demokratie?
Hill: Russland ist eine plebiszitäre Demokratie. Wahlen werden als Volksbefragung benutzt. Präsident Erdogan in der Türkei hält das ganz ähnlich. Die Wähler geben ihr Votum ab, und danach bleibt es dem Staatschef überlassen, die wichtigen Entscheidungen zu fällen. Wahlen geben in Russland allein die Stimmung wieder. Deshalb ist Russland keine echte Diktatur, denn dann würden Volksabstimmungen überhaupt keine Rolle spielen. Nach Putins Verständnis geben die Wähler ein Signal, und danach kann der Präsident die Agenda bestimmen. Wahlen sind die einzige Möglichkeit für die Bevölkerung, an der Politik teilzunehmen.
Um diese Unterstützung zu gewinnen, setzt Putin sehr stark auf Propaganda. Welche Rolle spielt dabei dabei die wachsende anti-amerikanische Stimmung?
Hill: Der Anti-Amerikanismus ist ein wichtiges politisches Instrument und funktioniert sehr gut. Putin profitiert davon auch in den Meinungsumfragen. Dabei bin ich mir nicht sicher, ob Putin selbst wirklich so anti-amerikanisch ist. Es gibt in Russland seit Jahren regelrechte Wellen von Anti-Amerikanismus, die herauf und herunter gehen. Im Moment scheint er mir auf dem höchsten Niveau seit dem Kalten Krieg zu sein, vielleicht ist er sogar noch stärker, was ich beunruhigend finde. Wir müssen das sehr ernst nehmen.
Und wie sieht es mit der Stimmungsmache gegen Europa aus?
Hill: Die anti-europäische Stimmung ist in Russland nicht so stark. Es ist einfacher, die USA als weit entfernte Nation zur Wurzel allen Übels zu machen. Interessant ist die Frage: Wird sich die Stimmung wieder drehen? Wird es einen Moment geben, in dem die russische Führung beschließt, dass dieser Anti-Amerikanismus nicht mehr so von Nutzen ist?
Ist der Anti-Amerikanismus als Teil russischer Propaganda auch ein erfolgreiches Mittel, um Europa zu spalten?
Hill: Ja. Denn es gibt ja solche Gefühle in Deutschland, in Großbritannien, in Frankreich und besonders auch in Ländern wie Griechenland. Putin kann sich an die Kommunisten und die Linke in Europa wenden oder neuerdings auch noch an die Rechte in Frankreich. Er kann alte Beziehungen aus der Sowjetzeiten wiederbeleben. Das ist ein sehr nützliches Instrument. Aber die Frage ist noch offen, wie effektiv das auf Dauer sein wird.
In Deutschland gibt eine große Debatte darüber, wie man mit Russland umgehen sollte. Gibt es eine richtige Strategie?
Hill: Die wichtigste Strategie ist, dass wir einig sein müssen, unsere eigenen Differenzen zu überwinden und eng zusammenzuarbeiten. Wir müssen politisch vorsichtig agieren. Gleichzeitig müssen wir uns widerstandsfähig zeigen und stark. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir unser eigenes Haus in Ordnung bringen, auch innerhalb EU und in der transatlantischen Allianz. Es untergräbt unsere Politik gegenüber Russland, wenn wir unsere eigenen Prinzipien und Verpflichtungen nicht einlösen.
Zur Person:
Fiona Hill ist Russland-Expertin bei der einflussreichen Washingtoner Denkfabrik Brookings. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Clifford Gaddy veröffentlichte sie das beachtete Buch: „Mr. Putin - Operative in the Kremlin“.