Christenkreuz statt Hakenkreuz
Danzig (n-ost) Ein kleines Dorf im Süden Danzigs organisierte im Oktober 2003 ein kleines deutsch-polnisches Wunder: Ein Mensch wurde wiedergeboren, der vor 64 Jahren starb. Bis vor einem Jahr noch war Pfarrer Johannes Aeltermann aus Meisterswalde (Mierzeszyn) eines der ungezählten, unbekannten Opfer des Nationalsozialismus. Erschossen und verscharrt zusammen mit 67 anderen hinter einer Scheune kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Die Nazis hatten fast ihr Ziel erreicht, diese Biographie auszulöschen, wie sie es mit so vielen anderen geschafft haben. Fast.
Doch dann suchte die örtliche Grundschule einen Namen und einen passenden Schutzpatron und entdeckte durch den Hinweis der wenigen noch lebenden Zeitzeugen einen deutschen Lebenslauf, der wegen seiner Außergewöhnlichkeit schmerzt, aber gleichzeitig voller deutsch-polnischer Hoffnungen steckt. Hoffnungen, derer es nach dem monatelangen Streit um ein Berliner „Zentrum gegen Vertreibungen“, so dringend bedarf.
Johannes Paul Aeltermann wurde am 26. Juni 1876 in Danzig geboren. Von 1912 an predigte er als Pfarrer in der kleinen katholischen Kirche in Meisterswalde. Etwa 700 Gläubige soll es damals in der protestantisch geprägten Gemeinde 30 Kilometer südlich von Danzig gegeben haben – darunter Deutsche und Polen. Dokumente, die der polnische Historiker Piotr Szubarczyk vom Institut des Nationalen Gedenkens (Instytut Pamieci Narodowej) im Auftrag der Schule gesammelt hat, belegen, dass sich Aeltermann als Mittler zwischen diesen unterschiedlichen Nationalitäten verstand. Gegen eine polnische Zeitung, die ihm 1911 zusammen mit einigen anderen deutschen Priestern vorwirft, die Assimilierung der Polen zu betreiben, wehrt er sich sogar vor Gericht. Zeitzeugen erinnern sich, dass Aeltermann monatlich einen polnischsprachigen Gottesdienst anbot. Von den Nazis wird er Anfang der 30er Jahre als „Polak“, als „Polenfreund“ beschimpft. Am 30. April 1933 droht ein SA-Mann: „Wenn der katholische Pfarrer nicht mit der Politik aufhört, dann werden wir ihm den roten Hahn aufs Dach setzen; bei dem Ortsgruppenführer sind schon Beschwerdebriefe, damit er nach der Wahl von dem Amte entfernt wird.“
Zu diesem Zeitpunkt gehört Hitler in Berlin längst die Macht. Das Deutsche Reich wird gerade gleichgeschaltet, die Opposition verboten, verfolgt, verhaftet und liquidiert. Danzig und sein Umland, das seit dem Versailler Vertrag von 1919 als „Freistaat“ unter Völkerbundverwaltung steht und außenpolitisch durch Polen vertreten wird, bleibt noch ausgenommen. Doch längst marschieren auch hier die Nazis auf den Straßen.
Obwohl er um sein Leben fürchten muss, nimmt Aeltermann den Kampf mit ihnen auf. „Das Hakenkreuz ist im Widerspruch mit den Grundgesetzen des Christentums. Nächstenliebe ist das Hauptgebot Jesu; wo anders verlangt man Rasse, Rassenkultur und Rassenpolitik.“ Diese Worte sagt er am 21. Mai 1933 in der kleinen katholischen Kirche in Meisterswalde. Und Aeltermann belässt es nicht dabei. Seine Predigt wird vor den Wahlen zum Danziger Volkstag gedruckt und als Flugblatt unter dem Titel „Hakenkreuz oder Christenkreuz?“ verteilt. Diese für einen Pfarrer außergewöhnliche Einmischung in die Tagespolitik begründet Aeltermann damit, dass es seine „Pflicht ist, Irrlehren zu bekämpfen, die Gläubigen zu schützen“. Die meisten Kollegen Aeltermanns nehmen den Schutz ihrer Gläubigen nicht so ernst. Es ist bezeichnend, dass fast zeitgleich der spätere Papst Pius XII. mit Hitler über ein Stillhalteabkommen verhandelt. Im Reichskonkordat, das am 20. Juli 1933 unterzeichnet wird, verpflichtet sich der Klerus, auf politische Äußerungen zu verzichten, umgekehrt versprechen die Nazis das Achten kirchlicher Rechte, in zivilisierten Staaten eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Es ist der erste außenpolitische Vertrag Hitlers, der Vatikan macht den Diktator salonfähig. Für Aeltermann muss es ein Schock gewesen sein.
Ein Flugblatt mit seiner Wahlpredigt, das durch den Westpreussischen Verlag in Danzig gedruckt wurde, blieb erhalten. Unterschrieben ist es mit „Euer Pfarrer Aeltermann, Dekan“. Mitautoren oder etwa Unterstützer aus den Reihen der Kirche finden sich nicht. Auf den zwei eng beschriebenen Seiten steht eine fundierte Analyse des Nationalsozialismus und seiner unmenschlichen Ziele. Im Gegensatz zu so vielen anderen Deutschen hat Aeltermann sich kundig gemacht. Er zitiert aus Alfred Rosenbergs Hetzschrift „Mythos des 20. Jahrhunderts“, aus Stämmlers Buch „Rassenpflege im völkischen Staate“, aus dem „Völkischen Beobachter“ und aus Danziger Nazi-Postillen. Scharf verurteilt er Versuche, die Kirche zu germanisieren, den Juden Jesus zu einem „Arier zu stempeln“ und „Orientalismus und Judentum“ aus der Religion zu tilgen. Er prangert die Entfernung von Katholiken aus öffentlichen Ämtern an und entlarvt die Absicht der Nazis, kinderlose, deutsche Frauen zu diskriminieren und umgekehrt zum Ziele der „Rassenpflege“, Sterilisierungen vorzunehmen. Nicht genug damit: In einem Zitat Hitlers von 1929 findet Aeltermann klare Hinweise auf das bevorstehende Euthanasie-Programm. „Man denkt unwillkürlich an den Kindermord von Bethlehem“, kommentiert der Pfarrer. Hitler ein potenzieller Mörder – wenige haben es gewagt, den Diktator so direkt anzugreifen, schon gar nicht mehr 1933. Die möglichen Wähler der Nazis ermahnt Aeltermann mit den prophetischen Worten: „Du bist und bleibst doch verantwortlich für alle Folgen...“
Wieviele Flugblätter verteilt wurden, von wem das Geld stammt, wer Aeltermann half – es bleibt Aufgabe der Historiker, dies zu klären. Viel zu wenige jedenfalls kämpften damals so leidenschaftlich wie er. Die Nazis erreichten bei den Danziger Wahlen im Mai 1933 mit 50,03 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit.
Unklar ist, wie es Aeltermann gelang, sich nach dieser Wahl weitere sechs Jahre in Meisterswalde zu halten. Der Druck auf ihn muss gewaltig gewesen sein. Möglicherweise schützte den Priester der große Rückhalt durch seine Gemeinde. 1935 jedenfalls setzte nach Erkenntnissen Szubarczyks der Danziger Gauleiter Albert Forster Aeltermann auf eine Liste mit Personen, die baldmöglichst aus ihren Ämtern zu entfernen seien. Wahrscheinlich bot auch der Völkerbund einen gewissen Schutz, der zuletzt vertreten durch den aus der Schweiz stammenden Hohen Kommissar Carl Jakob Burkhardt im Freistaat Danzig noch die Aufsicht führte.
Als Hitler am 1. September 1939 Polen überfällt und Danzig kurze Zeit später widerrechtlich „Heim ins Reich“ holt, haben die Nazis freie Hand. Eine brutale Germanisierungspolitik setzt ein. SS und Gestapo organisieren die Liquidierung der polnischen Intelligenz, der Operation gibt man den Namen „Tannenberg“. Nördlich von Danzig, unweit des späteren Geburtsortes der Vertriebenen-Vorsitzenden Erika Steinbach, finden in den Wäldern von Piasnica Massenerschießungen statt. Zudem werden Zehntausende von Polen und als regimekritisch bekannte Deutsche ins neu gegründete KZ Stutthof verschleppt.
Am 19. November treiben so genannte Selbstschutzeinheiten als unzuverlässig angesehene Personen aus den Dörfern im Südwesten Danzigs zusammen. 68 Personen, von denen die meisten immer noch nicht identifiziert sind, werden auf dem Gut der Familie von Wiecki, 15 Kilometer entfernt von Meisterswalde, liquidiert. Der letzte der dort sterben muss und möglicherweise der einzige Deutsche, ist Pfarrer Johannes Paul Aeltermann. Sein Todestag soll der 22. November 1939 gewesen sein. Zu diesem Zeitpunkt war die Bevölkerung des auf polnischem Gebiet gelegenen Dorfes, darunter auch die Familie von Wiecki, bereits nach Osten an den Bug vertrieben worden. Heimlicher Zeuge des Massakers ist ein Kutscher, der sich in der Scheune versteckt hält, hinter der die Erschießungen stattfinden. Als es vorbei ist, schlägt er drei Nägel in eine Scheunenwand, um die Lage der Massengräber zu markieren.
Im Sommer 1945 sind die Mörder vertrieben. Überlebende Polen suchen ihre Angehörigen und erfahren auch von dem Massengrab in Neu-Fietz. Die letzten verbliebenen Deutschen aus der Umgebung werden zur Exhumierung der Leichen gezwungen. Malwina Sulewska, geborene von Wiecki, die nach Kriegsende wieder auf das Landgut ihrer Familie zurückkam, erinnert sich an diesen Tag, es war wahrscheinlich der 16. Juni: „Als die Toten geborgen waren, kam es fast zum Lynchmord an den Deutschen. Die unsrigen wollten sie erschießen und in die Gräber rein. Steine sind geflogen. Ich sagte, seid doch nicht dumm. Die Deutschen, die das getan haben, sind längst weg. Das hier sind die guten Deutschen.“ Unter den Opfern, erzählt die 79jährige in fließendem Deutsch, sei auch ein 13jähriger Junge und seine polnische Mutter gewesen, die mit einem deutschen Offizier verheiratet und gerade aus Berlin zu Besuch war. Mit Aeltermann zusammen habe man noch zwei polnische Priester erschossen, der eine sei direkt vom Altar zur Hinrichtungsstätte geführt worden. Fünf Gräber mit insgesamt 68 Toten habe man gefunden, die obersten Toten seien mit Kalk übergossen worden und nicht mehr erkennbar gewesen. Auf der Leiche Aeltermanns habe eine tote Kuh gelegen. Tarnung oder gezielte Erniedrigung? Seine Priester-Soutane sei noch zu erkennen gewesen. Identifiziert habe Aeltermann die Schwester seiner alten Haushälterin Frau Schützmann anhand eines Pillendöschens, das noch in den Kleidern steckte.
Das Massaker, so habe es der Kutscher berichtet, hätten junge „Selbstschutzeinheiten“ begangen. „Wir haben hier gelebt, wie eine Familie, Deutsche und Polen. Bloß die Jungen, die hatten solche Versammlungen, denen haben sie das eingeredet“, erzählt Malwina Sulawska. Die Anstifter seien Nazi-Kommandeure aus Danzig gewesen, von denen sie aber keine Namen weiß. „Die haben die jungen Leute betrunken gemacht.“ Ein Deutscher, der eine polnische Braut hatte, habe sich geweigert zu schießen – Helmut Hartung soll sein Name gewesen sein. „Unschuldige werde ich nicht erschießen“, das habe er gesagt. Zur Strafe sei er dann in einem Keller festgesetzt worden.
Hartung war nach Erkenntnissen des Historikers Szubarczyk auch der letzte, der mit Pfarrer Aeltermann gesprochen hat. Gemeinsam seien sie im Keller gefangengehalten worden. Hartung habe Aeltermann zur Flucht aufgefordert, doch dieser habe abgelehnt und geantwortet: „Es soll Gottes Wille geschehen.“
Der neue Pfarrer von Meisterswalde, Ildefons Künemund, sorgte 1945 für die Überführung des exhumierten Leichnams. Beim Transport dabei war der damals 14jährige Johannes Beutler. „Wir sind mit zwei Pferden und einem Wagen nach Neu-Fietz gefahren. Auf dem Rückweg habe ich buchstäblich auf dem Sarg gesessen.“ Die Beerdigung vor der katholischen Kirche in Meisterswalde habe dann am 26. Juni 1945 stattgefunden „unter Salutschüssen, was angesichts der Erschießung Aeltermanns etwas makaber war.“
Beutler hat selbst Forschungen angestellt und ist unter anderem auf Eva Maria Aeltermann, eine noch in Deutschland lebende, entfernte Verwandte des Pfarrers gestoßen. Nach Angaben ehemaliger Einwohner von Meisterswalde könnte der Mörder Aeltermanns beziehungsweise der Auftraggeber, der damalige Landrat und Kreisleiter der NSDAP gewesen sein. Der Pfarrer habe sich nach Ausbruch des Krieges zunächst versteckt. Als er dann doch gefangen worden sei, habe er als Schutz den Brief eines befreundeten, hohen Offiziers vorweisen können. Doch eine Nazi-Größe habe auf seiner Erschießung bestanden. Nach Erkenntissen Szubarczyks war es ein örtlicher Großgrundbesitzer namens Günter Modrow, auf dessen Befehl die Erschießung erfolgte. Das Massaker von Neu-Fietz ist bis heute ungesühnt.
Szubarczyk und Beutler waren unter den 400 Gästen, die am 13. Oktober die „Wiedergeburt“ Aeltermanns in dessen alter Heimatgemeinde Meisterswalde (Mierzeszyn) feierten. Auch der deutsche Generalkonsul Dietlof von Berg und Vertreter der deutschen Minderheit nahmen an dieser deutsch-polnischen Versöhnungszeremonie teil. Der Erzbischof von Danzig, Tadeusz Goclowski, las eine Messe und nannte Aeltermann in seiner Predigt ein „großes Symbol“ für das geeinte Europa. „Es kommt nicht darauf an, ob man aus Deutschland oder aus Polen, aus Litauen, Russland, Frankreich oder Italien kommt, - auf den Menschen kommt es an“. Dafür habe Aeltermann sein Leben gegeben. „Danke für den Mut, ein Mensch zu sein.“
An der Hinrichtungsstätte Aeltermanns erinnert seit 2002 ein hölzernes Kreuz an die 68 Toten, die man dort fand. Auf dem nebenstehenden Stein ist allerdings ausschließlich von polnischen Opfern die Rede. Noch bei den Bauarbeiten für diese Gedenkstätte sind neue Knochen ans Licht gekommen. Am Ortseingang von Nowy Wiec wurde bereits kurz nach dem Krieg eine Gedenkstätte für die Toten angelegt, Aeltermann ist dort als „Elterman“ verzeichnet, auf diesen Namen war noch die Danziger Geburtsurkunde ausgestellt.
In Mierzeszyn trägt nun die Grundschule unübersehbar und stolz den Namen Aeltermanns; ein deutscher Schutzpatron dient polnischen Schülern als Vorbild fürs Leben. Im Schulhaus hängt überall sein Porträt und auch auf die neue Schulfahne, die der Erzbischof feierlich segnete, ist es aufgestickt. Auf sie legen von nun an die Schüler nach polnischer Tradition ein Gelöbnis ab. Außerdem bezeugen in Aeltermanns ehemaliger Kirche und an der Schulfassade zwei neue Gedenktafeln einen „deutschen Pfarrer“ und „Freund der Polen, der von Nationalsozialisten für die Verteidigung seines Glaubens und der Menschenwürde“ getötet wurde. Die Tafel am Schulgebäude hängt direkt unter einer anderen, älteren Tafel, auf der 43 Polen gedacht wird, die 1939 in der Schule interniert wurden, bevor man sie ins Todeslager abtransportierte. So fügt sich deutsch-polnische Geschichte zusammen, so stehen nun Schmerz und Hoffnung neben einander.
Ende