Russland

Namenlose Opfer oder adelige Gebeine?-Neue Studie bezweifelt Echtheit der Romanow-Überbleibsel

16. Febuar 2004

Fotos auf Anfrage an die Autorin (per Mail).

Namenlose Opfer oder adelige Gebeine?

Neue Studie bezweifelt Echtheit der Romanow-Überbleibsel

Von Veronika Wengert (e-mail: v_wengert@yahoo.com, Tel. 007-095-248 23 30 oder Mobil 007-903-195 51 81)

Moskau (n-ost) Das Schicksal der letzten Zarenfamilie, die 1918 unweit von Jekaterinburg ermordet wurde, bleibt weiterhin ungeklärt: Ein russisch-amerikanisches Forscherteam hat die sterblichen Überreste nun mit Hilfe modernster molekularbiologischer Technologien untersucht – und dabei Mängel bei der genetischen Analyse festgestellt, auf der die offizielle Anerkennung der Gebeine beruht.

Die Diskussion um die Echtheit der Gebeine, die offiziell als sterbliche Überreste der Romanow-Zarenfamilie gelten, hat neuen Treibstoff bekommen. Eine jüngste Studie hat ermittelt, dass die Knochenfunde nicht von Zar Nikolaus II. und seiner Familie stammen – sondern Relikte namenloser Opfer des Bürgerkriegs sind.

Monatelang untersuchten Gerichtsanthropologen fast 1 000 Knochensplitter, die Anfang der 1990er Jahre in einem Waldstück nahe Jekaterinburg gefunden wurden. Mit Hilfe eines Computerprogramms puzzelten die Experten ein genetisches Mosaik zusammen, das sie schließlich 1994 in einer Studie veröffentlichten: Bei den sterblichen Überresten handle es sich um die Romanow-Zarenfamilie und ihre Bediensteten, so die offizielle Version. Der Fall schien geklärt. Eine zweite Untersuchung, die 1993 in Großbritannien durchgeführt wurde, räumte Skeptikern zumindest einen kleinen Spielraum ein: Die Knochenfunde seien zu 98,5 Prozent die Gebeine der Romanows.

Daran zweifelten aber nicht nur Wissenschaftler rund um den Globus – auch die Russisch-Orthodoxe Kirche hat die sterblichen Überreste der Romanow-Zarenfamilie bis heute nicht anerkannt. Ihre Position machen die Glaubensväter einmal mehr deutlich, indem sie die jüngste Untersuchung, die in der Zeitschrift „Annals of Human Biology“ erschienen ist, auf ihrer offiziellen Webseite veröffentlicht haben. Durchgeführt wurde die genetische Analyse von hochkarätigen Molekularbiologen der Universität Stanford (Kalifornien), der Universität East Michigan, des nationalen Laboratoriums in New Mexico und der Russischen Akademie der Wissenschaften. Untersucht wurde die Erbsubstanz in der Gerichtsmedizin des Gebiets Swerdlowsk, dessen Hauptstadt das heutige Jekaterinburg ist.

Der technologische Fortschritt kam den Forschern zugute – denn im vergangenen Jahrzehnt wurden die Methoden zur Analyse der Erbmasse entscheidend verbessert. So kann heute sogar die DNA ägyptischer Mumien nachgewiesen werden, auch wenn sich die Erbmasse im Lauf der Jahre verschlechtert. Dennoch könne es nicht sein, dass in der Studie von 1994 DNA-Stränge mit 1 223 Segmentpaaren nachgewiesen wurden, so die russisch-amerikanische Forschergruppe. Denn nach heutigem Wissenstand habe Erbgut aus dieser Zeit weitaus weniger Segmentpaare, mindestens jedoch 250.

Nachweisen konnte eine DNA-Analyse auch nicht die Verwandtschaft zwischen Großfürstin Elisabeth, der Tante von Zar Nikolaus II., und den Knochenfunden von Jekaterinburg. Die internationale Forschergruppe hat zudem auch formale Verstöße im Verlauf des gerichtsmedizinischen Verfahrens bei der Untersuchung von 1994 bemängelt.

Nach der Machtergreifung der Bolschewiken 1917 wurden Zar Nikolaus II. und seine Familie in die Verbannung geschickt. Insgesamt 78 Tage verbrachten sie im Jekaterinburger Ipatjew-Haus, benannt nach seinem Architekten. Im Keller des Gebäudes wurden sie in der Nacht zum 17. Juli 1918 erschossen. Unter den Opfern waren Nikolaus II. und seine Gemahlin Alexandra, ihre Kinder Olga, Tatjana, Maria, Anastasija und Alexej sowie der Leibarzt und drei Diener. Das Ipatjew-Haus, in dem sich ab den 1920er Jahren das Revolutionsmuseum befand, wurde 1974 unter Denkmalschutz gestellt – drei Jahre später wurde es jedoch auf Anordnung von Boris Jelzin, dem damaligen örtlichen Parteichef, abgerissen.

Die Gebeine des bluterkranken Zarewitsch Alexej und der jüngsten Zarentochter Anastasija wurden nie gefunden – was Spielraum für Legenden schaffte: So wurde bereits 1920 eine junge Frau nach einem Selbstmordversuch aus dem Berliner Landwehrkanal gefischt, die behauptete, sie sei die jüngste Zarentochter Anastasija. Die verblüffende Ähnlichkeit und ihr Detailwissen über die Romanows sollten Wissenschaftler wie Journalisten bis zu ihrem Tod 1984 beschäftigen. Später ergab eine Gewebeprobe, dass die vermeintliche Anastasija eine
polnische Fabrikarbeiterin war.

Am 17. Juli 1998, genau 80 Jahre nach der Ermordung der einstigen Herrscherfamilie, wurden die Leichname im Beisein des damaligen Präsidenten Boris Jelzin in der Peter-Paul-Kathedrale in St. Petersburg beigesetzt. Zwei Jahre später wurden die Romanows als Märtyrer von der Russisch-Orthodoxen Kirche heilig gesprochen.

An der vermeintlichen Todesstelle erinnert seit dem 17. Juli vorigen Jahres die Blutskirche an das Schicksal der Romanows, die für rund eine Million US-Dollar errichtet wurde. Erst in diesen Tagen war das Gotteshaus in die Negativ-Schlagzeilen geraten: So drohen die örtlichen E-Werke, die Heizung abzuschalten, da die Baufirma die ausstehenden Heizkosten in Höhe von einer Million Rubel (etwa 28 100 Euro) bislang nicht beglichen hat, berichtete die Nachrichtenagentur „Nowyj Region“.

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Veronika Wengert





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