Ein Jahr Maidan: Vom Gewinnen und Verlieren
Immer wieder bekomme ich zu hören: „Wenn du gewusst hättest, wie das alles ausgeht – wärst du dann im Herbst 2013 auf die Straße gegangen?“ - „Natürlich wäre ich auf die Straße gegangen“, antworte ich. „Und wenn ich wirklich gewusst hätte, wie das alles ausgeht, hätte ich es auf alle Fälle den anderen erzählt.“
Heute schlagen mir immer öfter defätistische Stimmungen entgegen: Wofür die ganzen Opfer gut gewesen seien? Ob es das wert gewesen sei? Was hätten die Ukrainer für die Revolution bekommen? Die einen Oligarchen wurden von den anderen abgelöst, Reformen werden nicht durchgeführt, die Wirtschaft ist kaum lebensfähig, und das Allerschlimmste kommt noch hinzu: der Krieg. Ein Krieg, der real stattfindet und inzwischen ausnahmslos alle betrifft.
Man mag sich in solchen Fällen fragen, ob man Janukowitsch und sein Gefolge nicht besser hätte ertragen sollen? Dann hätte es wenigstens keine Toten gegeben. Meistens wird eine solche Sicht vorsätzlich in den Informations- und Kommunikationsraum in Umlauf gebracht, sie ist Teil jenes endlosen und zermürbenden Informationskrieges, in den wir alle hineingezogen worden sind. Natürlich gibt es in Informationskriegen keine Toten und Gefangenen, aber am Ende steht man trotzdem mit Verlusten da.
Gekauft, verkauft und wieder gekauft
Man versucht uns von der Sinnlosigkeit dessen zu überzeugen, wofür wir einstehen. Man versucht uns taktvoll und diskret davon zu überzeugen, dass unsere Bemühungen, wichtige und prinzipielle Dinge zu verteidigen, naiv seien. Man raunt uns zu: Für euch ist alles schon entschieden, alles ist schon gekauft, verkauft und wieder gekauft worden. Veränderungen haben doch überhaupt keinen Sinn. Und Veränderungen sind auch gar nicht möglich – alles wird so werden, wie es jene wollen, die kaufen, verkaufen und wieder kaufen. Man hat euch alle wieder einmal nur benutzt. Und ihr glaubt das alles nur nicht, weil man euch höchst professionell benutzt hat. Erst durch uns werden euch die Augen geöffnet, weil wir auf die ganze Sinnlosigkeit und Perspektivlosigkeit eurer Hoffnungen und Wunschträume hinweisen.
Viele stimmen übrigens zu: Ja, es wurde wirklich alles gekauft und verkauft, es gibt keinerlei Veränderungen, keinerlei Perspektiven, es wäre besser gewesen, wenn man alles so gelassen hätte, wie es war. Waren denn die Korruption und Janukowitsch so schlimm? Dafür hatten wir einen stabilen Dollarkurs, und die Lenin-Denkmäler standen alle noch da. Die Diskrepanz zwischen der Utopie revolutionärer Verkündigungen und den realen Möglichkeiten für deren Umsetzung ist wohl bei jeder Revolution die größte Herausforderung. Wenn ich dies verstehe, kann ich die Schwierigkeiten in der Zeit nach der Revolution mit der Bereitschaft zur Weiterarbeit annehmen, wenn ich dies nicht verstehe, werde ich mit meinen Enttäuschungen und Verletzungen allein bleiben. Natürlich möchte ich es lieber verstehen.
Vor einem Jahr sahen viele Dinge noch ganz anders aus und wurden ganz anders empfunden. Vor einem Jahr war dies ein anderes Land, in dem andere Menschen lebten. Möchte ich etwa sagen, dass wir alle von einem Umgestaltungsprozess erfasst worden sind, der uns von Grund auf verändert hat? Nicht ganz. Eher haben sich die Luft und der Himmel über uns verändert. Vor einem Jahr gab es hier noch keinen Krieg. Vor einem Jahr rief der Tod Schock und Entsetzen hervor. Heute dagegen bemerkt man den Tod oft einfach nicht mehr, heute wird in den Morgenmeldungen einfach nur auf die Zahl der Toten hingewiesen, ohne Vor- und Nachnamen.
Komische und unangebrachte Enttäuschung
Der Tod zwingt einen zur Gewöhnung an ihn, der Tod bringt einem bei, ihn nicht zu beachten. Der Tod betrifft immer mehr Menschen persönlich. Wer ihn erlebt hat, wird wohl kaum jemals wieder zu seinem früheren friedlichen Leben zurückkehren können. Für diese Menschen wird es nie wieder so sein, wie es vor dem Krieg war. Wahrscheinlich liegen hierin die wichtigsten Veränderungen, die im letzten Jahr stattgefunden haben. Und vor diesem Hintergrund wirken Reaktionen, die Enttäuschung über neue Berufungen im Ministerkabinett ausdrücken, komisch und unangebracht.
Aus denselben Quellen, aus denen man versucht, die Ukrainer von der allgemeinen Sinnlosigkeit und Perspektivlosigkeit solcher Dinge wie Freiheit und Unabhängigkeit zu überzeugen, wird in der ukrainischen Öffentlichkeit unhinterfragt und konsequent eine weitere grundlegende These in Umlauf gebracht, nämlich die, dass der Maidan, dass die Revolution, dass die Ablehnung eines Weiterlebens mit der früheren Regierung der einzige und direkt auszumachende Grund dafür seien, was mit der Krim passiert ist, und dafür, was heute im Donbass vor sich geht. Die Okkupation eines fremden Territoriums und die Verstöße gegen alle nur denkbaren internationalen Gesetze wären demnach also vor allem durch studentische Demonstrationen und gesellschaftlichen Protest provoziert worden.
Viele sehen darin tatsächlich eine natürliche und logische Entwicklung – besonders jene, welche den Maidan damals nicht unterstützten. Wer in Kiew auf der Gruschewski- und der Institutsstraße mitdemonstriert oder am eigenen Leibe die Nichtbeteiligung russischer Spezialeinheiten an den Aktionen des „Russischen Frühlings“ im Südosten der Ukraine erfahren hat, den wird man schwer davon überzeugen können, dass er nur für Geld vom US-amerikanischen Außenministerium auf die Straße gegangen sei und seine Rechte verteidigt hätte.
Für Freiheit muss man bezahlen
Gerade deshalb bleibt die Mehrheit der Ukrainer, welche den Maidan aktiv unterstützt haben, bis heute gesellschaftlich aktiv und schert sich dabei nicht sonderlich um die medialen Wellen und hysterischen Aufrufe zur Kapitulation. Nur ist es jetzt so, dass dem aktiven Teil der Gesellschaft nicht nur ein korruptes, bürokratische System gegenübersteht, welches von Sondereinheiten der Polizei bewacht wird, sondern eine echte, gut bewaffnete Armee. Entsprechend fällt die Zahl der Opfer um ein Vielfaches höher aus. Aber das Prinzip bleibt das gleiche: Für die Freiheit muss man bezahlen, und der Preis wächst ständig.
Die Ukraine zahlt heute tatsächlich einen sehr hohen Preis für ihr Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung. Sie zahlt es täglich: mit dem Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger, mit abgebrannten Städten, mit Hunderten Flüchtlingen und Dutzenden Verletzten. Ich weiß nicht, was die Ukrainer Ende November 2013 gesagt hätten, wenn sie gewusst hätten, dass alles mit russischen Panzerkolonnen im Donbass enden wird – wären sie dann demonstrieren gegangen oder hätten sie zu Hause auf die nächsten Präsidentsschaftswahlen gewartet?
Etwas sagt mir, dass sie demonstrieren gegangen wären. Denn hinter der Ablehnung eines Weiterlebens in einem postsowjetischen, durch und durch korrupten und überholten Staatssystem hat nicht das US-amerikanische Außenministerium gestanden, und es kann auch niemals dahinter stehen, und es gibt auch keine Verschwörung gegen Russland.
Die Ukrainer waren vor einem Jahr mehrheitlich der Meinung und sie sind es noch jetzt: Sie haben das Recht, ihre Zukunft, die Zukunft ihrer Kinder und ihres Landes selbst zu bestimmen. Und für meine Kinder und mein Land zu kämpfen hat immer einen Sinn. Sogar, wenn es sehr schwer ist. Sogar, wenn der Kampf ein sehr langer zu werden scheint. Sogar, wenn man versucht, mich davon zu überzeugen, dass es keinen Sinn hätte zu kämpfen. Wie sagte Brecht? „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Deshalb hat die Ukraine nicht verloren.
Übersetzung aus dem Russischen: Anna Burck