Ukraine

Kramatorsk in Angst

Als Anna die erste Explosion hörte, dachte sie sich noch nicht viel dabei. Sicher wieder eine Übung für die Soldaten, die neu an der Front sind. „Nach circa 20 oder 30 Minuten gab es dann einen großen Knall“, erinnert sich die Frau mit dem Rotschopf. Im Hinterzimmer des Spielzeuggeschäftes kauerte sich die Verkäuferin auf den Boden um den Beschuss abzuwarten. Granatsplitter durchlöcherten die Fassade, die Fenster zerbarsten. Dann war der Spuk wieder vorbei.


Viele waren nach Kramatorsk geflohen

Anna ist der Schrecken noch ins Gesicht geschrieben. Kramatorsk galt bis zuletzt als sichere, kleine Industriestadt in der Donezker Oblast, 50 Kilometer von den eigentlichen Kampfhandlungen zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee entfernt. Die Stadt, die wie das wenige Kilometer entfernte Slowjansk im Vorjahr unter Kontrolle der prorussischen Separatisten fiel, wurde Anfang Juli von der ukrainischen Armee zurückerobert. Am Dienstag wurde Kramatorsk nach Angaben der OSZE aus dem Separatistengebiet beschossen. Mehrfach-Raketensysteme schlugen sowohl im Zentrum, als auch in der Nähe eines Militär-Hauptquartiers der ukrainischen Armee ein. Laut offiziellen Angaben sollen dabei sechs Menschen getötet und 33 verletzt worden sein.

Der Schrecken des Krieges überschattet seit dem Raketenangriff das Leben in der 160.000-Einwohner-Stadt. Das örtliche Flüchtlingsheim, das von dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR unterstützt wird, hat bereits erste Familien weiter in den Westen geschickt – über Charkiw bis ins westukrainische Lemberg. Viele Flüchtlinge waren erst nach den heftigen Kämpfen rund um die Stadt Debaltsewo in das bisher friedliche Kramatorsk gekommen. Jetzt fühlen sie sich auch hier nicht mehr sicher. „Wir rechnen mit dem Schlimmsten“, sagt Jelena, die im Heim Säcke mit Zwiebeln und Kartoffeln an die Flüchtlinge verteilt. „Wir treffen gerade die ersten Vorkehrungen, um alle Flüchtlinge aus unserem Heim zu evakuieren.“ 60 Menschen sind im Heim vorübergehend untergebracht.


So schnell wie möglich weg

Oksana wohnt nicht mehr im Flüchtlingsheim, sondern hat mit ihrer kleinen Familie eine Wohnung gefunden. Sie hält ihre kleine Tochter im Arm. „Wir sind schon lange aus Makijiwka geflohen“ sagt die junge blonde Frau. „Die Raketenangriffe haben mich wieder an die Zeit erinnert, als wir zu Hause tagelang im Keller ausgeharrt haben.“ Oksana will gar nicht nach Westen, sondern gleich das Land verlassen. „Wir warten nur noch darauf, dass mein Mann den Einberufungsbefehl bekommt – was sollen wir dann bloß machen? Besser, wir reisen so schnell wie möglich aus.“

Auf die am Donnerstag in Minsk beschlossene Waffenruhe setzen die Menschen hier nur vorsichtig Hoffnung. „Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als dass dieser Krieg endlich aufhört“, sagt Valentina Petrowna. „Aber es war doch bisher immer so: Friedensverhandlungen wurden abgeschlossen, aber die Gefechte im Donbass gingen trotzdem weiter.“ Sie betreibt eine Apotheke im Stadtzentrum. Auch die Fassade und die Fenster der Apotheke wurden durch einen nahen Raketeneinschlag zerstört. „Wir hatten nie gedacht, dass es auch uns treffen könnte. Wir sind noch immer im Schock.“ Die Apotheke versorgt das nahe gelegene Krankenhaus mit den Medikamenten für die Verwundeten. „Viele haben durch Granatsplitter ihre Füße oder Hände verloren“, sagt Valentina.

Langsam kehrt in Kramatorsk aber wieder der Alltag zurück. Anna hat einen Zettel mit der Aufschrift „Geöffnet“ ausgedruckt und klebt ihn sorgfältig an die Eingangstür des Spielzeuggeschäfts. Die bunten Buchstaben, die das Geschäft unter dem kleinen Vordacht anpreisen, sind zerborsten. Die Wände sind von Granatsplittern durchlöchert. Weiter vorne, an der Straßenecke, sind noch Blutspuren auf dem Boden zu sehen. Plötzlich dringt das dumpfe, aber ferne Grollen eines Raketeneinschlags durch die Luft, gefolgt von leiserem Zischen. Die Menschen beginnen zu laufen und suchen nach einem Unterschlupf, die Straße leert sich in Sekundenschnelle. An dem Tag, an dem in Minsk eine neue Waffenruhe beschlossen wurde, ist der Krieg in Kramatorsk näher denn je.

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Quellen:  

Persönliche Gespräche in Kramatorsk

Angabe über Tote und Verletzte: http://www.hi.dn.ua/index.php?option=com_content&view=article&id=54140&catid=55&Itemid=147

OSZE: http://www.unian.net/war/1042640-kramatorsk-obstrelyali-s-yugo-vostoka-obse.html

http://www.kyivpost.com/content/ukraine/osce-kramatorsk-shelled-on-feb-10-from-south-south-east-direction-380260.html


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