Russlands Tor nach Asien
Lidia Bekenowa hat sich vorbereitet auf Russlands Zukunft. In diesem Jahr wird sie ihr Chinesisch-Studium in Wladiwostok abschließen. Die 21-Jährige will später einen Job in der Wirtschaft finden, in einem Unternehmen, das grenzüberschreitend tätig ist. „Russland orientiert sich nach Asien“, sagt sie, „das ist kein Geheimnis.“
Seit Ausbruch der Ukraine-Krise richtet Moskau seine Politik immer stärker zu den Nachbarn im Osten aus. Präsident Vladimir Putin betrachtet die Asien-Pazifik-Region als Wiege einer neuen Weltordnung. Und Wladiwostok, im Fernen Osten Russlands gelegen, ist das Tor nach Asien. Milliardenbeträge sollen in die Entwicklung des strukturschwachen Gebiets fließen, für Putin ist dies eine „nationale Priorität“.
Die Hafenstadt Wladiwostok liegt am Japanischen Meer, weit weg von Europa und dem Krieg in der Ukraine: 9288 Kilometer ist die letzte Station der Transsibirischen Eisenbahnstrecke von Moskau entfernt. Nach Tokio oder Seoul sind es hingegen nur zwei Flugstunden. Asiens Einfluss auf Wladiwostok ist allerdings überschaubar. Am sichtbarsten ist er anhand der Autos mit dem Lenkrad auf der rechten Seite – Importe aus Japan. Ansonsten prägen goldene Zwiebeltürme das Stadtbild, so wie Krieger- und Lenin-Statuen. Am Stadtrand wachsen Plattenbauten in den Himmel.
Speerspitze neuer russischer Politik
Als „Speerspitze der neuen russischen Politik“ bezeichnet Wladimir Mikluschewskij seine Region Primorje, dessen administratives Herz Wladiwostok ist. Der Gouverneur von Primorje spricht gerne von den vielzähligen Investitionsvorhaben in seinem Verwaltungsgebiet. 2015 sieht er als „Schlüsseljahr für neue Projekte“. Russlands Wirtschaftskrise könnte da kaum ungelegener kommen: Sie bremst die großen Ambitionen. Das Wachstum in der Region Primorje ist im vergangenen Jahr bereits gesunken, in den ersten drei Quartalen lag es nur noch bei 0,8 Prozent – Tendenz fallend.
Von Krise und Sanktionen sei in seiner Region kaum etwas zu spüren, gibt sich Mikluschewskij zwar kampfeslustig. Einwohner berichten indes, wie die Krise ihren Alltag erreicht hat: Die ohnehin hohen Lebenshaltungskosten sind in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen, während sich die Menschen um den sinkenden Wert ihrer Löhne sorgen.
Das Interesse der Investoren sei zwar vorhanden, sagt Natalja Prisekina, aber viele Firmen verzögerten ihre Vorhaben. „Jeder wartet jetzt ab, wie es weitergeht“, erklärt die Anwältin und Vorsitzende von Viba, einem Verband für ausländische Unternehmer. Aufgrund der Rubelschwäche, befinde man sich „in einer schwierigen Zeit“. Und die erhoffte große Investitionsflut nach dem Apec-Gipfel sei leider ausgeblieben, sagt Prisekina. Mit dem asiatisch-pazifischen Wirtschaftsgipfel Apec im Herbst 2012 wollte Putin für das wirtschaftliche Potenzial Wladiwostoks und der Region Primorje werben. Mehr als 16 Milliarden Euro flossen in ein neues Kongresszentrum, den Flughafen, Hotels.
China soll es richten
Wladiwostok war zu Sowjetzeiten ein geschlossener Militärstützpunkt, abgeschottet vom Rest des Landes. Heute gibt sich die Stadt mit ihren 600.000 Einwohnern sympathisch, offen, nach vorne strebend. Die meisten Bürger sind stolz auf ihre Heimat, auf die hübsche Lage am Meer, auf die Buchten sowie die hügelige Landschaft hinter der Küste. Im politischen Kurs nach Osten sehen sie keine Abkehr von Europa, stattdessen sagen sie: „Wir haben Europa und Asien im Blut.“
„Die Zusammenarbeit mit Europa soll keinen Schaden nehmen“, erklärt auch Gouverneur Mikluschewskij. Aber das Zentrum der wirtschaftlichen Entwicklung verlagere sich nach Asien. Zu den wichtigsten Investitionen zählt ein Autowerk, in dem Arbeiter japanische und koreanische Fahrzeuge bauen. Eine Werft für U-Boote, Tanker und Containerschiffe entsteht, ebenso ein großes Sägewerk im Norden der Region, der Hafen von Wladiwostok wird bald Freihafen sein.
Allen voran Investitionen aus China sollen es richten. Denen stand man lange skeptisch gegenüber, die Beziehungen zwischen China und Russland haben eine komplizierte Tradition. Einige in Wladiwostok fürchten sich zudem vor Überfremdung, erklärt die Studentin Lidia Bekenowa. „Die Leute sagen, es kann gefährlich sein, sich zu stark nach China zu richten“, sagt sie. Erst allmählich verstünden mehr Menschen, dass China „ein guter Freund ist, der gebraucht wird“.