„Heuchelei ist der Kern der Gesellschaft“
ostpol: Andrej Nikolaidis, Sie leben in Ulcinj, einer Stadt mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Sie ist idyllisch gelegen an der Adriaküste Montenegros und an der Grenze zu Albanien, wo Christen und Muslime friedlich zusammen leben. Wie waren die ersten Reaktionen nach den Terrorattacken in Paris?
Andrej Nikolaidis: Die Leute haben so reagiert, wie jeder mit gesundem Menschenverstand reagiert: Sie waren geschockt und konnten nicht fassen, was passiert ist.
Hintergrund der Frage ist die Angst in Deutschland vor einer vermeintlichen „Islamisierung des Abendlandes“, wie sie etwa die Pegida-Bewegung beschwört. Können Sie solche Ängste nachvollziehen?
Wissen Sie, wie viel Angst ich vor einer Islamisierung habe? Ich bin der Enkel eines orthodoxen Priesters und habe für den Bau einer Moschee in Ulcinj gespendet. Dahinter steht, wenn Sie so wollen, ein christlicher Gedanke: Du sollst deinen Nachbarn helfen. Es ist doch so: „Den“ Muslim, „den“ Islam gibt es nicht.
Der Schriftsteller und Publizist Andrej Nikolaidis gilt als einer der einflussreichsten Intellektuellen in Südosteuropa. Er wuchs als Kind einer montenegrinisch-griechischen Familie in Sarajevo auf und lebt in Montenegro. Nikolaidis ist für seine schonungslosen Anti-Krieg-Reportagen und sein bedingungsloses Eintreten gegen Nationalismus und für Menschenrechte bekannt. Er veröffentlichte mehrere Romane und einen Kurzgeschichtenband. Für den Roman „Sin“ erhielt er 2011 den Literaturpreis der Europäischen Union. Im April 2014 erschien die deutschsprachige Ausgabe seines Romans „Die Ankunft“ im Verlag Voland & Quist.
ostpol: Liegt das auch an daran, dass es im Islam keine Hierarchien gibt?
Der Islam hat keine letzte Autorität wie etwa den Papst. Natürlich kann der radikale Islam zum Problem werden, man muss sehr wachsam sein. Davor warnt ein Freund von mir schon seit Jahren – er ist ein Imam. Was ich vor allem sagen will: Nicht alle Muslime sind Salafisten. Und nicht alle Salafisten sind Terroristen. Gleichzeitig sage ich jedem, der Meinungsfreiheit gegen Glaubensfreiheit ausspielen will: Meine Meinung hindert dich nicht daran, weiter zu glauben. Aber dein Maulkorb lässt mich verstummen.
„Je suis Charlie“ – das ist auch ein Bekenntnis zu Meinungs- und Pressefreiheit. Beim Trauermarsch in Paris am vergangenen Wochenende waren auch Politiker aus Staaten dabei, in denen die Pressefreiheit missachtet wird. Der montenegrinische Außenminister etwa war dort, in Montenegro kommt es immer wieder zu tätlichen Übergriffen auf kritische Journalisten.
Heuchelei ist der Kern der Gesellschaft. Das ist eben der Zynismus von Macht. In Montenegro gibt es die besten Gesetze, nur die Praxis sieht anders aus. Übergriffe auf Journalisten müssen aufhören. Und die, die geschehen sind, müssen juristisch aufgearbeitet und bestraft werden. Das würde aber auch jeder Minister in Montenegro so sagen, und dennoch passiert nichts. Es ist sicher wichtig, dass auch die EU weiterhin Druck ausübt. Aber der Trauermarsch war auch ein starkes Zeichen von Solidarität. Was mich viel mehr gestört hat, war die eurozentrische Perspektive: Von den 2.000 Menschen, die in Nigeria ebenfalls von radikalen Islamisten getötet worden waren, hat in Paris keiner gesprochen. Gelten europäische Werte nur für Europäer?
Sie haben in gewisser Weise einen Standortvorteil in der Erfahrung mit dem Islam: In vielen Ländern Südosteuropas leben Muslime seit Jahrzehnten mit Christen und anderen Religionsgemeinschaften zusammen. Kann der Balkan insofern Vorbild sein für westeuropäische Gesellschaften?
Oh je, ich glaube nicht, dass der Balkan für irgendetwas Vorbild sein kann, wenn etwas Konstruktives dabei herauskommen soll (lacht). Klar, der Islam ist bei uns keine neue Erscheinung, dafür spielen ethnische Unterschiede nach wie vor eine große Rolle. Und auch die religiöse Frage kommt letztlich doch immer wieder hoch: Während des Krieges sind tausende Muslime in Bosnien getötet worden, im Kosovo sind schreckliche Dinge passiert. Und ein Massaker wie in Srebrenica konnte nur stattfinden, weil das Eindringen des Islams für viele immer noch ein Trauma war.