Russland

Eine Stadt fasst sich ein Herz

„Reißen wir das Haus der Räte ab?“ – „Und wird das Schloss wieder aufgebaut?“ Alexander Popadin schüttelt den Kopf, er kann diese Fragen nicht mehr hören. Die Debatte, wie das historische Zentrum Kaliningrads künftig aussehen soll, ist mindestens zwanzig Jahre alt. Neu angefacht hat sie der Architekturwettbewerb „Herz der Stadt“, organisiert vom gleichnamigen Planungsbüro.

Vom Schreibtisch aus hat dessen Leiter Alexander Popadin das Areal, das neu bebaut werden soll, genau im Blick: 56 Hektar Fläche, größtenteils Brache. In der Mitte steht einsam das Dom Sovetov, das Haus der Räte, das nie vollendet wurde. Wie ein quadratischer Riesenkopf mit zwei Augen schaut das Gebäude aus der Erde hervor, die Leute nennen es auch „vergrabener Roboter“. Erst auf den zweiten Blick zu entdecken sind in einer Ecke die allerletzten Steine des Königsberger Schlosses. Die Mauern, die nach dem Krieg noch standen, wurden Ende der 1960er Jahre gesprengt.

Haus der Räte versus Königsberger Schloss – es überrascht nicht, dass sich die Diskussion jahrelang an diesen beiden Objekten aufgehängt hat. Nun will man sie in eine andere Richtung lenken. „Der Wettbewerb hat uns die Ideen geliefert, die uns all die Jahre gefehlt haben“, sagt Alexander Popadin. Bis Ende des Jahres soll sein Büro auf Basis der Ergebnisse einen Bebauungsvorschlag erarbeiten und der Stadtverwaltung vorlegen. Die will ihn dann in ihre Rahmenplanung aufnehmen.


Am liebsten abreißen

Gewonnen hat ein Team aus Petersburg mit dem Vorschlag, die Fundamente des Schlosses freizulegen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Als Reminiszenz an die Residenz ist ein repräsentatives Gebäude für verschiedene Veranstaltungen vorgesehen. Berücksichtigen will das Büro „Herz der Stadt“ außerdem die Arbeit des zweitplatzierten russisch-französischen Teams. Es präsentierte nach Meinung der Jury die besten Ideen für die öffentlichen Plätze und Grünflächen, die östlich des Dom Sovetov entstehen sollen. Den Abriss des Gebäudes schlug keiner der 19 Entwürfe vor, die es ins Finale geschafft haben.

Zufrieden mit diesem Ausgang des Wettbewerbs sind freilich längst nicht alle. Gouverneur Nikolaj Zukanov äußerte auf einer Pressekonferenz, dass er das Haus der Räte am liebsten abreißen lassen würde. Auch die Bürger der Straße wissen, auf der Straße befragt, nicht viel mit dem Hochhaus anzufangen. „Das Dom Sovetov ist eine Augenkrankheit“, sagt Georgij, der 1956 nach Kaliningrad kam und sich an die Überreste der Residenz erinnert: „Das Schloss war ja noch da, die Mauern waren bestimmt zwei Meter dick.“ Alexander, der mit seinen kleinen Sohn am Pregelufer spazieren geht, meint: „Es geht darum, die Geschichte für die Nachwelt zu bewahren. Doch was bitte sollen wir unseren Kindern vom Dom Sovetov erzählen?“

Königsberg so gut es geht wieder auferstehen zu lassen – das möchte auch Arthur Sarnitz. „Wie würde die Stadt heute aussehen, wenn sie nicht zerstört worden wäre? Das ist unsere Leitfrage.“ In seinen Computersimulationen zeigt der Architekt, wie er sich das Zentrum der Stadt ausmalt: ein Meer von roten Dächern, schmucke Giebel, enge Gassen, und in der Mitte das Schloss. Arthur Sarnitz träumt davon, dass Experten aus der ganzen Welt am Wiederaufbau mitwirken „Königsberg ist ein einzigartiger Ort, um zu zeigen, dass die Menschen durch Kultur und Technik vereint werden, dass wir alle in einem gemeinsamen Haus leben.“ Und er fragt, die Antwort längst wissend: „Kann es in Europa ein besseres Projekt geben?“


Hauptsache anfangen

Am Wettbewerb haben Sarnitz und sein Team nicht teilgenommen, hatten sie ihre Ideen doch schon vor Jahren erfolglos präsentiert. Doch nun hat Gouverneur Zukanov eine Zusammenarbeit zwischen dem Büro „Herz der Stadt“ und Arthur Sarnitz angeregt. Und auch wenn Alexander Popadin an den Ideen seines Kollegen kritisiert, dass man eine Stadt nicht klonen kann, scheint es möglich, dass die Stadtplaner einen gemeinsamen Nenner finden. So können sich beispielsweise beide vorstellen, zumindest einen Turm des Schlosses wieder zu errichten.

Einst ebenfalls kontrovers diskutiert wurde das „Fischdorf“ am Pregelkanal südlich des Dom Sovetov. Dort entstand ab 2007 eine kleine Einkaufs- und Flaniermeile. Schmale Häuser mit Fachwerkelementen stehen neben einem Leuchtturm ohne Hafen, ein Stück weiter befinden sich die Hotels „Kaiserhof“ und „Skipper“. Nicht jedem gefällt der historisierende Stil, auch er war Anlass für Kritik. Doch mittlerweile gehört das Mini-Viertel nicht nur als Foto-Motiv zu Kaliningrad dazu. Einheimische und Gäste gehen dort spazieren, wer es sich leisten kann, kehrt auf einen Kaffee ein.

Dass das Büro „Herz der Stadt“ nun einen Bebauungsvorschlag für das Areal rund um das Haus der Räte erarbeiten soll, hält Alexander Popadin für einen wichtigen Schritt. Doch glaubt er auch, dass die Stadt ihr Zentrum mindestens weitere zehn Jahre diskutieren wird. Worauf es in diesen Monaten ankommt, drückt sein Kollege Arthur Sarnitz ganz treffend aus: „Hauptsache, wir fangen endlich mal an.“


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