Russland

Das Prinzip Terror

Vor zwanzig Jahren, am 11. Dezember 1994, betraten Einheiten der russischen Armee das Territorium der selbsterklärten Republik Tschetschenien. Ihr Ziel war es, „Recht und Gesetz wiederherzustellen“, wie der Präsident in seinem Ukas formulierte. Mit einer langen Dauer rechnete niemand. Die Kräfte der russischen Armee und die der tschetschenischen Streitkräfte schienen nicht vergleichbar.

So begann der Krieg, der Russland veränderte und Wladimir Putin an die Macht brachte. Was bedeutete das Jahr 1994 für Russland? Wegen der Hyperinflation verwandelte sich Geld in Papierschnipsel. Es herrschte Arbeitslosigkeit, Löhne wurden monatelang nicht gezahlt. Die Russen waren enttäuscht von Präsident Jelzin und seiner Regierung. Man munkelte, nun brauche Jelzin einen „kleinen siegreichen Krieg“, um alles wieder gerade zu biegen.


Das Zeitalter des Terrors

Der Krieg begann. Und er wurde weder klein noch siegreich: Während des Sturms von Grosny im Winter erlitt die russische Armee schwere Verluste. Doch nicht diese Verluste haben das Land verändert, sondern ein anderes Ereignis: Im Sommer 1995 besetzte der Kampftrupp von Schamil Basaew ein Krankenhaus in der Stadt Budjonnowsk. 1.500 Menschen wurden als Geisel genommen. In Russland begann das Zeitalter des Terrors.

Es ist wichtig zu verstehen, dass zwischen 1995 und 1991 bloß vier Jahre liegen. Das Leben der Russen war zum großen Teil von ihren sowjetischen Erfahrungen geprägt, ihr Bewusstsein war sowjetisch. Der Terror, also ideologisch motivierte Gewalt, war im sowjetischen System ein staatliches Monopol. So seltsam es klingt, das gab den Menschen ein Gefühl der Sicherheit: Der Staat setzte Gewalt ein, duldete dabei aber keine Konkurrenz. Außerdem hatte die staatliche Gewalt in der späten Sowjetunion nicht mehr den Charakter von Befehlsakten, sondern sie war bereits untrennbar mit dem sozialen und politischen Aufbau der Gesellschaft verwoben.

Den Wechsel der historischen Epochen empfanden viele Menschen als Gewalt: Sie wurden gegen ihren Willen in ein neues Leben geworfen. Nicht umsonst spricht man in Russland von den „wilden Neunzigern“. Kriminalität wurde zu einer gesellschaftlichen Institution. Inflation, der Wertverlust des Geldes, war auch eine Form von Gewalt, nämlich Diebstahl. Unklar blieb, wer der Dieb war. Stress und das Gefühl der Schutzlosigkeit wurden zum Normalzustand für Millionen. Für viele Menschen wurde ihre bloße physische Existenz zum einzigen Eigentum - alles andere, einschließlich der Erfahrung der Sowjetzeit, verlor seinen Wert.


Die Tradition des Zarenreichs

Und plötzlich stellte sich heraus, dass der Staat unfähig war, selbst eine solche Minimalexistenz zu garantieren. Kriminelle Gewalt machte den Menschen Angst, Terror gebar Schrecken. Zu Beginn des Krieges zeigten viele noch Mitgefühl mit den Tschetschenen – mit Zivilisten, die starben oder ihr Obdach verloren. Doch nur die Wenigsten waren bereit, aus der Politik des Präsidenten Konsequenzen zu ziehen und etwas gegen den Krieg zu unternehmen.

In der Tradition des Zarenreichs, der Sowjetunion und des neuen Russlands ist eine solche gegenseitige Verantwortlichkeit von Macht und Gesellschaft nicht vorgesehen. Die Staatsbürger sind Opfer dieser Tradition. Die tschetschenischen Kämpfer wollten die russischen Staatsbürger dazu zwingen, sich für den Krieg und die Politik ihrer gewählten Vertreter zu verantworten – nach dem Auge-um-Auge-Prinzip. Sie erreichten das Gegenteil: Nun wurden alle Tschetschenen als Feinde wahrgenommen.

Heute mag es so wirken, als sei Putin im Jahr 1999 auf der Welle der Sowjetnostalgie an die Macht gekommen. Doch nicht sie brachte ihn in den Kreml. Es war die Angst, eine deutlich spürbare Angst. Im Herbst 1999, nach den Häuser-Explosionen in Moskau, organisierten die Menschen in vielen russischen Städten Nachtwachen vor ihren Häusern d.h. sie bewachten sie.


Russland verlor seine Zukunft

Putin erschien wie ein Beschützer, ein starker Führer, der fähig war, mit dem Terror fertig zu werden. Die Menschen freuten sich über den neuen, harten Präsidenten. Sie waren bereit, die altbekannte staatliche Gewalt zu dulden, um im Gegenzug vor der irrationalen Gewalt des Terrorismus beschützt zu werden. Bald interessierten sich nur die Wenigsten für das Leiden der tschetschenischen Zivilbevölkerung. Der neue Führer genoss einen riesigen Vertrauensvorschuss. Die Gesellschaft konnte den Krieg nicht stoppen und brauchte jemanden, der die Sünde der Brutalität und die Last der Mitleidslosigkeit auf sich nahm.
Terror als Antwort auf Terror - und Putin antwortete.

Als in Russland unabhängige Fernsehsender geschlossen wurden, beschuldigte man sie, ein Sprachrohr der Tschetschenen zu sein. Nach dem Anschlag in Beslan schaffte man die Gouverneurswahlen ab. Die Logik dahinter: Um dem Terror zu widerstehen, ist eine harte Machtvertikale notwendig. Dem Kampf gegen Terrorismus wurden bürgerliche Rechte und Freiheiten geopfert. Die russische Gesellschaft bekam sie nie wieder. Russland gewann den Krieg – doch es verlor seine Zukunft.


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