Russland

Jüdisches Leben auf der Krim

Moschee, Kirche und Synagoge auf engstem Raum beieinander: Angesichts ihrer Altstadt schmückt sich die Schwarzmeer-Hafenstadt Jewpatorija mit dem Titel „Klein-Jerusalem“. Einen Farbtupfer im interkulturellen Mosaik Jewpatorijas stellt die Gemeinschaft der Karäer dar, die auf der Krim eines ihrer Zentren hat. Die kleine Volksgruppe der Karäer leitet ihren Glauben aus der Thora ab, der Staat Israel erkennt ihr Rückkehrrecht an.

Die Straßen wirken ausgestorben in Klein-Jerusalem Anfang Oktober, die Touristensaison neigt sich ihrem Ende entgegen, und überhaupt sind weniger Gäste gekommen in diesem Jahr. Denn Jewpatorija liegt auf der Krim, jener Halbinsel, deren Annexion durch Russland im Frühjahr Europa an den Rand eines neuen Kalten Krieges brachte.


Chance für einen Neuanfang?

An das plötzliche Auftauchen russischer Spezialeinheiten und das international nicht anerkannte Referendum zur Loslösung von der Ukraine erinnern T-Shirts an Souvenirständen mit dem Konterfei von Russlands Präsidenten Wladimir Putin. Auf den Straßen ist es ruhig, nur ganz selten einmal sind uniformierte Ordnungshüter in ihren nagelneuen russischen Polizeiautos zu sehen. Wer ein halbes Jahr keine Zeitung gelesen hat, dem könnte die Krim in diesem Herbst einfach wie ein etwas verschlafener, aus der Zeit gefallener Ort vorkommen.

Einer, der sein Leben auf der Halbinsel verbracht hat, ist Michail Katz. Der 64-jährige Elektroingenieur aus Jewpatorija begreift den Anschluss an Russland vor allem als Chance für die jüdische Gemeinschaft in seiner Heimat. Bislang, so Katz, habe es ein Nebeneinander zahlreicher jüdischer Organisationen in Jewpatorija gegeben. „Vor einem Jahr hätten wir lange darüber nachdenken müssen, wer einen Journalisten empfangen kann, um die jüdische Gemeinschaft in Jewpatorija zu vertreten“, erklärt Katz. Dass russische Recht erlaubt es ethnischen Minderheiten, Kulturautonomien zu bilden, die dann dem Staat gegenüber als Ansprechpartner fungieren. Nach dem Anschluss der Krim an Russland bemühte Katz sich, Vertreter unterschiedlicher Organisationen an einen Tisch zu bekommen, um eine solche Kulturautonomie in seiner Heimatstadt zu gründen.


Allein in Jewpatoria gibt es zwei Gemeinden

In Jewpatorija gibt es zwei jüdische Gemeinden: Die progressive Gemeinde hat ihre Synagoge in der Altstadt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zurückerhalten, bis zu 100 Gläubige versammeln sich dort freitags zum Gebet. Neben der Synagoge wartet ein jüdisches Restaurant auf Besucher, aber in diesem Jahr kommen weniger als in den Jahren zuvor. Die kleinere orthodoxe Gemeinde verfügt ebenfalls über eine Synagoge in der Altstadt, die in sowjetischen Jahren lange Jahre als Lagerraum für eine Brauerei diente. Die Fassade ist mit Steinen aus Jerusalem saniert, für die noch ausstehende Innenrestauration fehlen derzeit die Mittel.

Katz setzt seine Hoffnungen darauf, dass mit Hilfe der Stadt ein jüdisches Museum in dem Gebäude entstehen kann. Neben den religiösen Gemeinschaften wirken in Jewpatorija die wohltätige Stiftung Chesed und die jüdische Einwanderungsorganisation Sochnut. Bis zu zehn verschiedene jüdische Strukturen habe es in Jewpatorija gegeben, so Katz. „Ob der Wandel gut ist oder schlecht, wird sich zeigen. Aber organisatorisch ist die Neuordnung richtig.“


Die neuen Rabbiner sollen aus Moskau kommen

Dass jüdisches Gemeindeleben in Jewpatorija heute unabhängig von der politischen Großwetterlage wieder blüht, ist zu einem großen Teil der Verdienst von Wladlen Ljustin. Der studierte Mathematiker, Jahrgang 1946, gründete in den Perestrojka-Jahren in Jewpatorija die erste jüdische Gemeinschaft auf der Krim. In die Wiege gelegt wurde ihm sein Engagement nicht: Sein Vater war überzeugter Kommunist, Ljustins Vorname Wladlen steht als Abkürzung für den Revolutionär Wladimir Lenin. Jiddisch, so erinnert sich Ljustin, sprachen die Eltern zuhause nur, wenn sie vor dem Sohn etwas zu verbergen hatten.

Heute lebt Ljustin in dem Kurort Jalta an der Südküste der Krim, wo er ebenfalls den Aufbau einer jüdischen Gemeinschaft vorangetrieben hat. Wer mit Wladlen Ljustin die Uferpromenade von Jalta entlang spaziert, dem erscheint die Stadt mit ihren 80.000 Einwohnern als großes Dorf: Von allen Seiten wird Ljustin gegrüßt. Schachspieler winken ihn heran, fordern ihn, früher einmal Meister der Krim in dem Brettspiel, zu einer Partie heraus. Einen älteren Herrn stellt Ljustin mit den Worten vor: „Das hier ist übrigens der Vorsitzende der deutschen Minderheit in Jalta.“ Bevor er sich zum Foto mit seinem deutschen Freund aufstellt, fischt Ljustin noch schnell die Kippa aus seiner Tasche: „Damit man auch sieht, dass ich Jude bin.“


Annexion entzweit Krim-Bewohner

„Wir sind mit allen befreundet“, berichtet Ljustin über die Beziehungen zu anderen Minderheiten in Jalta. Persönlichen Kontakte würden auch zu Freunden und Partnern in der Ukraine fortbestehen, organisatorisch jedoch gliedere man sich in russische Strukturen ein, erklärt Ljustin. Formal ist er noch immer Vizepräsident der jüdischen Gemeinschaft in der Ukraine, in Jalta hat er aber bereits eine Kulturautonomie nach russischem Recht aufgebaut hat. Die von Kiew entsandten Rabbiner haben die Krim inzwischen verlassen, bald werden neue aus Moskau erwartet.

Die Ereignisse des vergangenen halben Jahres hätten Wunden hinterlassen, nicht nur bei Juden, sondern bei allen Bewohnern der Krim, erklärt Ljustin: „Ich kenne dutzende Familien, die nicht mehr miteinander sprechen.“ Auch Ljustins eigene Töchter haben den Konflikt aus unterschiedlichen Perspektiven wahrgenommen: die eine lebt im ukrainischen Charkiw, die andere in der russischen Hauptstadt Moskau. Entsprechend fallen auch die Bewertungen der Situation aus, allerdings, so Ljustin, seien seine Töchter diplomatisch genug, um den Familienfrieden nicht zu gefährden.

Nach der Stimmung in der jüdischen Gemeinschaft gefragt, antwortet Ljustin zunächst halb scherzend mit dem geflügelten Wort von den zwei Juden, die fünf Meinungen hätten. Ernster erklärt er dann, dass auch die Juden in ihrer großen Mehrheit den Beitritt zu Russland begrüßten. Nein, das Referendum sei nicht korrekt abgelaufen, dennoch spiegele das Ergebnis den eindeutigen Willen der Mehrheit wieder.

Wie viele andere Menschen auf der Krim dieser Tage spricht Ljustin ruhig über die Ukraine, ohne Hass in der Stimme, eher mit Sorge. Seine eigenen Eltern hätten für die Befreiung der Krim in der Roten Armee gekämpft, erklärt Ljustin. Im westukrainischen Geschichtsverständnis seien sie „Okkupanten und Aggressoren“, sagt er. Den Vorwurf, dass in Kiew antisemitische Nationalisten an die Macht gekommen seien, will er dagegen nicht gelten lassen: „Viele Juden standen ebenfalls auf dem Maidan.“ Dann bricht er auf, um sich mit einer Kollegin zu treffen: Eine Jüdin aus dem ukrainischen Dnipropetrowsk. Sie ist angereist, um wie Ljustin beim alljährlichen Festival zu Ehren des russischen Schriftstellers Anton Tschechow mitzuwirken.

Dieser Text wurde mit einem Reise-Stipendium von n-ost gefördert.


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