Leben im Schwebezustand
Mal ist es ein dunkles Grollen wie während eines Gewitters, mal sind einzelne Abschüsse zu hören, mal rumst es derart, dass im Zentrum der Stadt die Fensterscheiben erzittern. Aber in Donezk zucken nur noch Menschen zusammen, die erst seit kurzem da sind. Die meisten haben sich an die Präsenz des Krieges gewöhnt, daran, dass sich seit Monaten Separatisten und die ukrainische Armee am Flughafen der Stadt zermürben.
Und keine Seite scheint echte Anstrengungen zu unternehmen, den Status Quo zu ändern. Es scheint, als sei der Krieg in die Sackgasse geraten, angehalten auf halbem Wege. Der Kampf um die Überreste des Flughafens ist symptomatisch für die Lage des Donbass. Die Volksrepubliken Donezk und Luhansk haben sich von der Ukraine losgesagt, doch Russland hat die Gebiete bislang nicht angegliedert. Kiew hingegen beschwört die Einheit des Landes, hat aber vor zwei Wochen die Renten für die Bewohner der Volksrepubliken eingefroren und die Schließung aller staatlichen Einrichtungen angeordnet. Die drei Millionen Bewohner der Region leben im Schwebezustand.
Keine Renten und Gehälter
Fragt man Boris Litwinow, einen der führenden und intelligenteren Köpfe der Separatisten, dann steht die Donezker Volksrepublik nach einer revolutionären Phase nun kurz davor, ein funktionsfähiger Staat zu sein. „Die Maschine läuft jetzt“, sagt Litwinow mit einem Lächeln. Im Anzug sitzt der 60-Jährige im achten Stock der ehemaligen Gebietsverwaltung, nun „Sitz der Regierung“. An seinem Revers – ein Anstecker der Donezker Volksrepublik (DNR).
Bis vor kurzem war der Kommunist Vorsitzender des Obersten Sowjets, er leitet den Aufbau staatlicher Strukturen. Stolz berichtet er davon, wie die Republik nach und nach internationale Anerkennung finde. Der von Georgien abtrünnige Zwergstaat Südossetien hat die DNR schon anerkannt, bald könnte Abchasien folgen – beide Republiken sind international kaum anerkannt.
Aber Litwinow versteht die Schwere des Schlages, den Kiew den Separatisten versetzt hat: Laut einer Anordnung von Präsident Petro Poroschenko werden in den von ihnen kontrollierten Gebieten seit dem 1. Dezember keine Renten mehr ausgezahlt, das gleiche gilt für die Gehälter von Ärzten und Lehrern. Und derzeit schließt auf Poroschenkos Anordnung die letzte ukrainische Bank ihre Filialen. Nur die Versorgung mit Gas und Strom hat Kiew nicht gekappt. Denn das hätte tatsächlich zu einer humanitären Katastrophe geführt: In Donezk sinken die Temperaturen jetzt schon deutlich unter Null, seit diesem Wochenende liegt Schnee.
Alle Chemiefabriken stehen still
In seinen Händen dreht Litwinow eine Sanduhr, immer rechtzeitig, bevor der Sand ganz aus dem einen Behälter in den anderen gerieselt ist. „Sie versuchen unseren Menschen den Gedanken aufzuzwingen: Wärt ihr nicht in den Krieg gezogen, dann hättet ihr jetzt Speck und Brot“, erklärt er. „Und viele werden sich am Kopf kratzen und sagen: Hm, stimmt vielleicht.“
Sehr schnell muss die Republik nun ein funktionierendes Finanzsystem aufbauen, nur dann kann sie effektiv Steuern einnehmen, um dann Gehälter und Pensionen, also „Speck und Brot“, zu bezahlen. Litwinow plädiert sogar für die Einführung einer eigenen Währung. Er ist überzeugt, dass die Republik mit ihren Kohlegruben, mit Stahl- und Chemiewerken alleine lebensfähig ist. Doch eine vom „Spiegel“ veröffentlichte Analyse aus dem Kreml zeigt, dass das Rückgrat der Region nachhaltig angeknackst ist: Die Industrieproduktion allein im Gebiet Donezk ist um 59 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Sämtliche Chemiefabriken der Region stehen still, ebenso 69 von 93 Kohleminen.
Ohne Moskau können die Volksrepubliken kurz- und mittelfristig nicht überleben. Zwei zinsfreie Kredite, jeweils etwa 250-300 Millionen Griwna (15 Millionen Euro) hat die Volksrepublik Litwinow zufolge aus Russland bekommen – Peanuts freilich angesichts der knapp zwei Millionen Menschen, die allein in der Donezker Volksrepublik leben. Neben der Unterstützung mit Kriegsgerät liefert Russland über die letzten Monate auch in großem Maßstab technische Hilfe für den Wiederaufbau und medizinische Güter.
Der Bankautomat bleibt leer
Es gibt zwar vorsichtige Verhandlungen mit Kiew über Kohlelieferungen, aber ansonsten führen für Litwinow und die anderen Separatisten derzeit alle Wege nach Moskau. Erst am vergangenen Donnerstag war Alexander Sachartschenko, Premierminister der DNR, zu Treffen in Moskau. In dieser Woche fährt Litwinow, und er will sich unbedingt mit Sergej Glasjew treffen, einem von Putins wichtigsten Beratern in Sachen Ukraine.
Im Vergleich zum August, als Hunderttausende die Stadt verlassen hatten und die Geschosse schon bis ins Zentrum flogen, ist Donezk nun zu einer gewissen Normalität zurückgekehrt. Nur in den Vierteln, die direkt an den Flughafen angrenzen, schlagen noch immer Granaten ein, sterben fast täglich Zivilisten. Im Rest der Stadt fahren Straßenbahnen und Busse, Menschen eilen zur Arbeit, gehen einkaufen, einzig das Nachtleben ist wegen der Ausgangssperre ab 22 Uhr praktisch zum Erliegen gekommen. Kämpfer in Camouflage, mit Kalaschnikows und Panzerfäusten sieht man auf der Straße kaum noch, stattdessen fahren nun markierte Polizeiautos der Volksrepublik durch die Stadt.
Ein paar Meter weiter stehen Dutzende Menschen vor einer Filiale der letzten ukrainischen Bank, die bis zuletzt funktionierte. Schon seit Tagen harren sie, insbesondere Rentner, hier ab sechs Uhr in der Kälte, um doch noch etwas Geld abzuheben, wenn der Bankautomat gefüllt wird. Die meisten sind stinksauer auf den ukrainischen Präsidenten. „Wir haben doch zwanzig Jahre in die Rentenkasse eingezahlt. Das Geld ist unseres“, schimpft eine ältere Dame mit Pelzmütze. Ein älterer Mann gibt zu bedenken, dass man doch schließlich für die Unabhängigkeit der Volksrepubliken gestimmt habe. Daraufhin schauen die anderen etwas unschlüssig. Dann tritt mal wieder jemand an den Bankautomaten und überprüft seinen Kontostand. Nur – an das Geld ranzukommen, ist unmöglich. Auch heute bleibt der Bankautomat wieder leer.
Kampf um Herzen und Köpfe
Enrique Menendez, 31, ist so etwas wie die „vernünftige Stimme des Donbass“. Dem jungen Geschäftsmann – sein Großvater war Spanier, daher der Name – gehörte vor dem Krieg eine Internetmarketing-Firma mit zehn Angestellten. Die ist pleite, nun wird er in Kiewer Talkshows zugeschaltet, für seine Innenansichten. Menendez organisierte noch im März Demonstrationen für eine vereinte Ukraine, bis heute ziert eine ukrainische Flagge seine Wohnungstür.
Schwer zerstritten hat sich Menendez mit ehemaligen Donezker Aktivisten, die nun von Kiew aus die Lage in Donezk kommentieren. Um zu erklären warum, hebt er seine Hand hoch über den Kopf. „Die dort beurteilen alles vom politischen Level aus.“ Auf dieser Ebene etwa gelte der Konflikt im Osten der Ukraine nur als Instrument Moskaus, um die Ukraine zu erpressen. Dann senkt Menendez seine Hand auf Augenhöhe und sagt: „Ich beurteile es von dem Niveau aus, auf dem dir die Menschen hier in die Augen schauen.“
Ihr habt die Separatisten gewählt, warum sollen wir euch noch Geld geben?, hört er aus Kiew. Aus Donezk heißt seine Antwort: „Zum Teufel, das hier ist unsere Heimat, wir wollen nicht von hier weg.“ Und dass die Alten nun die Quittung dafür bekommen, dass sie für die Abspaltung gestimmt haben? „Die Alten sind nicht schuld, wenn sie sich irren.“ Aber wenn Kiew so weitermache wie jetzt, verliere es den „Kampf um die Herzen und die Köpfe.“
Menendez liest derzeit viel über den Konflikt um Nordirland, der immerhin eine jahrhundertealte Geschichte gehabt habe. Natürlich, die über 4.000 Toten des letzten halben Jahres seien eine schwere Bürde, aber er glaubt daran, dass das Gebiet Teil der Ukraine bleiben könnte, etwa in Form einer autonomen Republik. Dazu müsste Kiew jedoch Verhandlungsbereitschaft zeigen. Aus seiner Lektüre über Nordirland hat Menendez eine Lehre gezogen: „Eine Lösung ist nur möglich, wenn sich die Politiker einen Ruck geben.“