Russland

Wo Kaliningrad wie Königsberg ist

Im Spätherbst lässt sich die alte Amalienau besonders gut erkunden. Hier und da halten sich die Blätter noch an den Zweigen fest und rascheln im Wind. Anderswo sind sie längst abgefallen und geben den Blick frei auf Gärten und Häuser. Die Fassaden leuchten in warmen Farben: Gelb und Rostrot, Ocker und Walnussbraun. Vor kleinen Häuschen blühen Astern und Chrysanthemen.

Hier im Westen von Kaliningrad lässt sich erahnen, wie es gewesen sein könnte, in Königsberg. Und wie das Viertel heute lebt, davon erhält man auch einen Eindruck. Trotzdem verschlägt es nicht viele Touristen hierher. Zu entdecken gibt es vieles, man braucht nur einen Blick für Details. Und einen Stadtplan, denn mancher Straßenverlauf ist eigenwillig.


Im Dornröschenschlaf

Startpunkt für einen Streifzug ist die Luisenkirche am Kalinin-Park. Dort gabeln sich Prospekt Mira und Prospekt Pobedy und begrenzen in etwa den Stadtteil, der einst Amalienau hieß. Wer dort in eine Seitenstraße einbiegt und die Augen ein bisschen zusammenkneift, glaubt sich für einen Moment in einem Berliner Villenviertel wiederzufinden. Macht man die Augen wieder auf, ist es anders: Viele Fassaden muten an wie ein Flickenteppich, an den Türen blättert die Farbe ab, Zäune und Briefkästen sind verrostet. Und doch finden sich hier und da bezaubernde Gartentore, schmiedeeiserne Balkone und Stuckwerk über den Fenstern. Als hätten sich die Häuser ihre Schönheit in einem Dornröschenschlaf bewahrt.


Hinkommen: Am besten und günstigsten ist es, zuerst (z. B. per Zug) nach Gdansk zu reisen. Von dort gehen täglich mehrere Busse nach Kaliningrad, die Fahrt kostet keine zehn Euro.

Losspazieren: Ein guter Ausgangspunkt für eine Tour ist der Kalinin-Park, offiziell „Zentralny Park Kultury i Otdycha“. Dort befindet sich auch gleichnamige Bushaltestelle.

Auftanken: „Kvartira“ heißt auf Russisch „Wohnung“. Wie zu Hause kann man sich an gleichnamigem Ort in der uliza Kolovskova 13 auch fühlen. Dort gibt es Tee, Kaffee und Kuchen, Bücher, CDs und Schallplatten, Kinoabende und interessante Lesungen.

Zugucken: Vorstellungen im Puppentheater in der Luisenkirche gibt es von Freitag bis Samstag. Hin und wieder stehen sogar Stücke für Erwachsene auf dem Programm.

Dazulernen: Führungen durch das „Alte Haus“ in der uliza Pugatscheva 12 und durch Amalienau organisiert Natalja Bytschenko, sie spricht allerdings nur Russisch (alteshaus12@gmail.com; +7 911 451 42 84).


Explizite Hinweise auf die ostpreußische Vergangenheit liefern Gully-Deckel und gelegentlich sogar einzelne Ziegelsteine. „Union-Gießerei“ steht auf dem Gitter eines Straßenablaufs, in den Backstein einer Gartenmauer ist der Name „Zoegershof“ geprägt. Auch die roten Hydranten sind schon Zeugen des Straßenlebens in Königsberg gewesen.

Wieder Einzug gehalten hat der Geist längst vergangener Zeiten in eine Wohnung in der Pugatschev-Straße. „Hagedorn’sches Stift“ ist über dem Eingang von Haus Nummer 12 gerade noch zu entziffern. Ein Indiz dafür, dass vor hundert Jahren wohlhabende Bürger das Viertel für ihren Alterssitz wählten. Im Erdgeschoss haben ein paar geschichtsinteressierte Kaliningrader das „Alte Haus“ eingerichtet.

Durch den Korridor, wo Pelzmäntel an der Garderobe hängen, geht es hinein in die gute Stube. Dort serviert Natalja Bytschenko Tee und erzählt. Den Krieg überstand das Haus größtenteils unbeschadet. Erst zogen Offiziere ein. Später wurden die Wohnungen in Kommunalkas umgewandelt. Immer ließen die Bewohner Wände, Böden, Türen und Fenster im Großen und Ganzen so, wie sie waren. Sie hatten nicht die Mittel und vielleicht auch nicht das Bedürfnis, Kunststofffenster einbauen und Laminat verlegen zu lassen.


Puppentheater in der Kirche

Auf nochmal eine andere Art und Weise grüßt Königsberg am Eingang des Kalinin-Parks, ehemals Luisenwahl: Als lebensgroße Figuren auf den Rollladen eines Kiosks gemalt, sitzen an einem Tisch zwei feine Herren und eine Dame mit Hut beim Kaffee. Wer um die Ecke schaut, sieht, dass die Geschichte noch weitergeht und ein Lausbub dem einen Herrn das Portemonnaie stibitzt. Den klassischen Vergnügungen eines Sonntagnachmittags lässt sich in dem Park nach wie vor frönen: In der Luisenkirche zeigt heute ein Puppentheater sein Programm. Es heißt, mit diesem Nutzungsvorschlag hat man zu Sowjetzeiten die Stadtverwaltung ausgetrickst und den Sakralbau vor dem Abriss bewahrt.

Hinter der Kirche schließt ein Vergnügungspark an. Größte Attraktion in diesen Wochen ist die Eisbahn. Die Pirouetten, die die Mädchen dort vorführen, lassen auf hartes Training schließen. Ein Stück abseits, bei den Blumenbeeten, treffen sich die älteren Herrschaften. Auf vier, fünf Bänken sitzen sich jeweils zwei Männer am Schachbrett gegenüber, gebannt verfolgen ihre Fans die Partie. Nebenan hat sich ein Damengrüppchen um einen Opa mit Akkordeon versammelt. Sie singen Liebeslieder, drei Frauen haben sich eingehakt und schunkeln: „Ich werde Dich nicht küssen.“ Solange die Sonne wärmt, ist so ein Sonntag in Amalienau noch lange nicht vorbei.


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