MH17-Absturz: Ein Schritt zur Wahrheit
Vier Monate ist es her, dass Flug MH17 Amsterdam-Kuala Lumpur vom Himmel über der Ostukraine geschossen wurde. Vier Monate ist es her, dass 298 Menschen derart sinnlos starben, dass der Welt, die sich an Katastrophen aller Art gewöhnt hat, der Atem stockte.
Vier Monate ist es her, doch unter dem grauen Novemberhimmel beim Dörfchen Grabowo erscheint es, als sei es gestern gewesen. Eiskalter Wind treibt über die Wiese am Dorfrand, zwischen vertrockneten Gräsern liegen angekokelte Buchseiten, unweit davon eine zerbrochene Lesebrille. „Miss Saeki, would you sleep with me“, steht da, es ist Seite 316 von Haruki Murakamis „Kafka am Strand“.
Auf der Straße, die am Feld vorbeiführt, laden Katastrophenschützer gerade mit einem Kran den linken Flügel der Boeing 777 auf einen Tieflader. Holländische Ermittler verfolgen den Vorgang aufmerksam. Damit kommt endlich Bewegung in die Aufklärung einer Tragödie, über deren Deutung die Weltöffentlichkeit streitet wie selten.
Katastrohpenschützer sammeln die Trümmerteile auf
Der niederländische Sicherheitsrat hatte kurz nach dem Absturz auf Bitten Kiews die internationale Untersuchung des Falles übernommen. Aber erst seit vergangenem Sonntag erlauben es die Sicherheitslage und ein Abkommen mit den Separatisten, die Überreste der Boeing zu bergen.
Der Flügel ist aufgeladen und vertäut, und einer Grabprozession gleich fährt der Konvoi nun in Richtung Sugres, der nächsten ukrainischen Stadt mit Eisenbahnschluss, an einigen Stellen im Schritttempo wegen der Schlaglöcher. Vorneweg mit Blaulicht ein Polizeiauto der „Donezker Volksrepublik“, dann der Tieflader mit dem Flügel der Boeing, dahinter die Jeeps von OSZE und niederländischer Polizei. Wenn die für die Ermittlung notwendigen Flugzeugteile eingesammelt sind, macht sich von hier ein Zug auf den Weg in die zweitgrößte ukrainische Stadt Charkiw, 300 Kilometer von hier. Von dort werden die Teile per Zug und LKW nach Holland gebracht, wo die Ermittler versuchen werden, das Flugzeug wieder zusammen zu setzen.
Noch immer sind nicht alle Opfer geborgen
Unter den Teilen des Flugzeuges machen die Bergungsarbeiter bis heute grausige Entdeckungen: Werden Körperteile gefunden, werden sie sofort mit einem Kühlwagen nach Charkiw und dann weiter nach Holland abtransportiert. 289 von 298 Opfern sind bis heute gefunden.
Eine wichtige Frage stellt sich freilich nach vier Monaten: Sind überhaupt noch alle Überreste des Flugzeuges vorhanden, etwa jene Metallteile aus der Verkleidung des Cockpits, die im vorläufigen Untersuchungsbericht zu sehen waren, durchsiebt von Projektilen? Die Antwort der Niederländer ist: Ja, alle Flugzeugteile seien noch an Ort und Stelle. Ob die Projektile selbst gefunden wurden, darüber schweigen sie.
Ringen um die Schuldfrage
Um die Frage, wer die Schuld für den Absturz der Boeing trägt, ringen der Westen und Moskau bis heute. Mit harten Bandagen. Kurz vor dem Beginn des G20-Gipfels im australischen Brisbane präsentierte das russische Staatsfernsehen ein Bild, aufgenommen von einem westlichen Satelliten, das den Abschuss der Boeing durch einen ukrainischen Jagdflieger zeigt. Das Bild ist eine grobe Fälschung, für das die Schemen der beiden Flugzeuge auf ein Bild von Google Maps aus dem Jahr 2012 projiziert wurden.
Erdrückend ist dagegen die Beweislast für einen Abschuss der Maschine durch Separatisten mit einem BUK-System russischer Bauart. Igor Strelkow selbst, militärischer Führer der Separatisten, prahlte kurz nach dem Absturz im russischen sozialen Netzwerk „vk.com“, seine Leute hätten eine ukrainische Antonow-26 abgeschossen. Als klar wurde, dass da keine ukrainische Antonow, sondern ein ziviles Flugzeug abgestürzt war, wurde der Beitrag gelöscht.
Trägt Putin eine Mitschuld?
Vor wenigen Tagen veröffentlichte der britische Blogger Eliot Higgins auf der Seite „Bellingcat“ eine detaillierte Analyse aller verfügbaren Video- und Fotoaufnahmen. Er kommt zu dem Schluss, dass mindestens ein BUK-System aus einer russischen Luftabwehreinheit in Kursk im Juli in die Ostukraine transportiert und später wieder nach Russland zurückgebracht wurde. Nun fehlte allerdings eine BUK-Rakete.
Der BND geht allerdings laut einem vertraulichen Bericht im Oktober davon aus, dass die Separatisten das Waffensystem in einer ukrainischen Kaserne erbeuteten. Die Herkunft des BUK-Systems hat eine kaum zu überschätzende Tragweite. Die Frage lautet: Ist Russland, ist Präsident Wladimir Putin für den Abschuss zu belangen?
Unter den Anwohnern kursieren fantastische Gerüchte
Der Schlussbericht des niederländischen Sicherheitsrates, erwartet für den Sommer 2015, wird die Gründe für den Absturz klären, jedoch nicht die Schuldfrage. Damit beschäftigt sich die niederländische Generalstaatsanwaltschaft. In einem seltenen Interview erklärte deren Leiter Fred Westerbeke im Oktober gegenüber dem „Spiegel“, dass man zwar den Abschuss durch eine Boden-Luft-Rakete als das wahrscheinlichste Szenario sehe, aber auch den Angriff durch ein anderes Flugzeug nicht ausschließe. Westerbekes Ermittlungen werden mindestens bis Ende 2015 dauern.
Unter den Bewohnern der Dörfer, über denen am 17. Juli die Überreste der Boeing niedergingen, machen allerlei Gerüchte die Runde. Gesammelt werden sie in der Küche von Wladimir Bereschnoj, Dorfbürgermeister des Fleckchens Grabowo. Gerade ist der 59-jährige Wladimir von der Absturzstelle zurück. Er hat den Niederländern und den Leuten vom Katastrophenschutz heißen Tee und Speckbrote gebracht. Die sind nicht nur deshalb voll des Lobes: Er übergibt ihnen immer wieder Pässe, Kreditkarten der Passagiere, die die Dorfbewohner auf den Wiesen finden.
Manche Dörfler durchstreifen das Absturzgebiet auf der Suche nach einer ganzen Kiste Diamanten, die ein Händler angeblich im Flugzeug transportiert habe, um sie in Malaysia zu verkaufen. Der TV-Sender der Separatisten verbreitete gar die Version, die Insassen von Flug MH17 seien schon tot gewesen, bevor das Flugzeug abgeschossen wurde. Als ausgemacht gilt hier allerdings, dass die Ukrainer für den Abschuss verantwortlich waren. In manchen Erzählungen sind es sogar zwei ukrainische Kampfflieger, die die Boeing vom Himmel geholt hätten.
Nur ein paar hundert Meter vom Absturzort stehen Wohnhäuser
Kalt gelassen hat das Ereignis vom 17. Juli Menschen wie Wladimir nicht, trotz der rauen Schale. Sein Haus steht ein paar hundert Meter von der Absturzstelle entfernt, und man muss ihn nicht lange fragen, was ihm in Erinnerung geblieben ist von jenem Tag. Ein Bild, das er nicht mehr los wird, das sich in sein Hirn gefressen hat: „Ein Frauenbein, mit lackierten Fußnägeln, auf dem Asphalt unserer Straße“, murmelt er, als hätte er das Bild jetzt gerade vor Augen.
Dann rumst es, und Wladimir ist in der Wirklichkeit zurück. „Das ist ein paar Kilometer von hier, beim Dorf Faschiwka“, sagt er. Wenn sich Ukrainer und Separatisten dort mit Haubitzen und Granatwerfern beschießen, dann klirren bei Wladimir nicht nur die Scheiben, das ganze Haus erzittert. Immerhin haben die beiden Kriegsparteien sich vor einigen Tagen darauf geeinigt, mit dem Töten bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten, dann, wenn die OSZE-Beobachter und das holländische Team das Absturzgebiet nach getaner Arbeit verlassen. Ein seltsamer Krieg.
Der „Sheriff“ trägt das Abzeichen der „Donezker Volksrepublik“
Wladimir greift zur Gitarre und singt ein Lied des russischen Liedermachers Alexander Galitsch. Es handelt von einem Mann, der einen Freund im Irrenhaus besucht, um mit ihm ein paar Gläschen zu trinken. Am Ende bleibt er dort, weil es ihm im Irrenhaus besser gefällt als in der Wirklichkeit. Dann rummst es wieder, und die Wände von Wladimirs Haus erzittern.
Er hebt sein Glas, zum Anstoßen ist jetzt auch der „Sheriff“ gekommen, ein früherer Kohlekumpel, der jetzt mit einem Abzeichen der „Donezker Volksrepublik“ im Dorf für die Ordnung zuständig ist: „Wir haben das Donnern des Krieges satt. So satt“, sagt Wladimir. Es rumst wieder. Dann trinken die beiden, worauf sonst, auf den Frieden.
Quellen:
Recherche vor Ort
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