Bulgarien

Im Würgegriff der Vergangenheit

Aus dem Englischen von Dörthe Ziemer

Die bulgarische Gesellschaft ist Opfer der skrupellosen kommunistischen Diktatur von ihrer dunkelsten Seite. Das Land hat 45 Jahre lang das ideologische Modell der Sowjetunion übergestülpt bekommen, das die bulgarische Gesellschaft radikal mit den desaströsen sowjetischen Standards überformte.

Die Kommunisten versuchten, die öffentliche Meinung zu manipulieren, indem sie auf die Beteiligung Russlands beim letzten Krieg Bulgariens gegen das Osmanische Reich anspielten und ganz offensichtliche Wahrheiten verdrehten. Dabei wurden die sowjetischen Besatzer als Befreier und Retter dargestellt.


Die Denkmäler der „sowjetischen Befreier“ werden immer noch verehrt

25 Jahre nach dem Kollaps dieser unheilvollen, unmenschlichen Herrschaft in Osteuropa schweben die Denkmäler der „sowjetischen Befreier“ noch immer über den berühmten Plätzen der bulgarischen Städte. Selbst heute versuchen die „demokratischen“ Machthaber, den Widerstand der Bürger gegen diese Denkmäler und organisierte Massenproteste gegen die Symbole der dunkelsten Ära des Landes zurückzudrängen. Aktivisten, die sich gegen die vielen tausend Denkmäler aus kommunistischer Zeit stellen, werden wie Vandalen behandelt und von Verwaltung und Justiz bestraft.

Ein viertel Jahrhundert nach der demonstrativen Zerstörung der Berliner Mauer als Symbol von Dogmatismus und Diktatur bleiben in einem Land, das Mitglied von EU und Nato ist, die kommunistischen Symbole Heiligtümer, die von den Machthabern verehrt werden. Die Antwort auf dieses Paradoxon ist eine große Kontroverse innerhalb der Gesellschaft: Sie ist zerrissen zwischen den dunklen Kräften der Vergangenheit, die während der Zeit der Transformation zu einer allumfassenden politischen Macht geworden sind, und ihrem Bemühen um Normalität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

Als Bulgarien 2007 vollwertiges Mitglied der EU wurde, erklärte ein führender russischer Politiker ganz unverschämt und arrogant, das Land sei nun das „trojanische Pferd“ Russlands in den europäisch-atlantischen Strukturen. Diese Aussage eines Repräsentanten des russischen imperialen Strebens offenbart die tödliche Symbiose zwischen den einst regierenden kommunistischen Cliquen in Russland und Bulgarien.


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Das „trojanische Pferd Russlands“

Wie sehr Russland im Bemühen darum, seine früheren Satelliten zu kontrollieren, bereit ist, internationales Recht zu brechen, zeigt sich in dem schrecklichen Drama in der Ukraine. Diese Aggression hilft vielleicht zu verstehen, warum Russland von den bulgarischen Machthabern weiterhin verlangt, die sowjetischen Symbole als nationale Werte zu verteidigen und die dagegen Protestierenden in der gleichen Weise zu bestrafen wie das vorangegangene Regime.

Hat sich der Fall des Eisernen Vorhangs tatsächlich am 10. November 1989, als der damalige Staatschef Tudor Schiwkow abgesetzt wurde, auch in Bulgarien vollzogen? Oder steht sein Schatten immer noch über dem ganzen System aus skandalöser Korruption, dem Würgegriff der Mafia und dem russischen Oligarchen-Modell? Es ist noch immer der Eiserne Vorhang, der das bulgarische Volk davon abhält, entschlossen der großen Familie der europäischen Demokratien beizutreten, zu der es eigentlich gehört. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass heute der Einfluss Putins auf die Wirtschaft und die Politik in Bulgarien noch skandalöser ist als seine bereits vergiftete Beziehung zur Ukraine.

Während die Bulgaren in den vergangenen 25 Jahren unter unendlichem Elend, Mühsal, allmächtig organisierter Kriminalität, Korruption in Gerichten und Verwaltung, wirtschaftlichem Verfall sowie monströser Plünderung von Ersparnissen und nationalen Reserven litten, haben die alten Strukturen der Bulgarischen Kommunistischen Partei und der repressiven Maschine des früheren Geheimdienstes (DS) kontinuierlich soziales Chaos produziert.


Der Geheimdienst spielt sein Monopoly weiter

Sie haben ihr Monopoly in allen Bereichen der Gesellschaft weitergespielt – allerdings unter dem Deckmantel von legalen Parteien, Ideen und Organisationen. An Armut, das Fehlen von Möglichkeiten, Jobs und jeglicher sozialer Sicherheit gewöhnt, haben die normalen Bulgaren erkannt, dass es keine Chance gibt, gegen das korrupte System zu protestieren – sie wählten den Protest durch Emigration. Mehr als drei Millionen junge, intelligente und fleißige Bulgaren haben sich in Westeuropa und Nordamerika niedergelassen.

Am Vorabend des 25-jährigen Jubiläums des Falls des Eisernen Vorhangs gibt es nicht einmal den Hauch der Hoffnungen, des Enthusiasmus', des Glücksgefühls über den Zerfall des Kommunismus, wie er Ende der 1990er-Jahre wehte. Die Oligarchie und die Strippenzieher in Bulgarien geben nicht nur die Agenda des täglichen politischen Lebens vor, sondern beeinflussen auch die Berichterstattung darüber.

Wegen der zielgerichteten Kontrolle über das Eigentum an den Mainstream-Medien (Print und Online), die Einführung von Zensur und wegen unjournalistischer Arbeitspraktiken in diesen Medien ist Bulgarien paradoxerweise seit dem EU-Beitritt 2007 im Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen von Platz 36 auf einen beschämenden 100. Platz abgerutscht. Heute liegt es auf dem letzten Platz unter den europäischen Ländern, sogar noch weit hinter Ländern wie Kosovo oder Albanien. Das Kriterium der Pressefreiheit ist zudem ein Barometer für den Zustand der politischen Verhältnisse insgesamt.


Die Hälfte der Bürger geht nicht mehr wählen

Befreit von den Zurückhaltungen, die Bulgarien Europa gegenüber an den Tag legte, um EU-Mitglied zu werden und Zugang zu den EU-Fördertöpfen zu erlangen, haben sich die bulgarischen Kommunisten und die Vertreter des alten Regimes an die Spitze der Gesellschaft gestellt, um ihre Positionen zu verteidigen. Man kann inzwischen sagen, dass die Mehrheit der intelligenten Bulgaren definitiv mitbekommen haben, dass sie Opfer eines großen historischen Schwindels geworden sind. Nachdem die vielfältigen Verbindungen aller parlamentarischen Parteien zum Staatssicherheitsdienst bekannt wurden, ist ein großes Maß an Vertrauen der Menschen in die Politik verloren gegangen. Und nachdem vor der letzten Wahl 350.000 überzählige Stimmzettel gefunden worden waren, sank die Bereitschaft, sich an Wahlen zu beteiligen, erheblich. Mehr als 53 Prozent der Wahlberechtigten sehen keinen Grund, an die Urnen zu gehen.

Die übrigbleibende Minderheit, die über lokale Politiker ebenso entscheidet wie über Abgeordnete des Europäischen Parlaments, besteht zum großen Teil aus disziplinierten Wählern der früheren Bulgarischen Kommunistischen Partei (heute Bulgarische Sozialistische Partei BSP) und der türkischen Partei Bewegung für Recht und Freiheit (DPS), deren Wähler an die Urnen gehen ohne die offizielle Sprache ihres Landes zu sprechen und zu verstehen. So eine Konstellation hat den alleinigen Zweck, so lange wie möglich den derzeitigen neo-feudalen Status der Gesellschaftsordnung des Landes zu bewahren. Die bulgarische Zivilgesellschaft ist zu echtem Widerstand nicht in der Lage, weil sie über keine politische Vertretung, keine wirtschaftlichen und finanziellen Ressourcen und keine medialen Plattformen verfügt.

Ein sehr trübes Bild von der Politik hält den kreativen und aufgeschlossenen Teil der bulgarischen Gesellschaft davon ab, irgendwelche öffentlichen Aktionen zu unternehmen: So ist Bojko Borrissow, früherer Ministerpräsident, der jetzt wieder Kurs auf dieses Amt nimmt, als Drogenhändler, Schmuggler und Geldwäscher bekannt, in seinem Team sind verurteilte Kriminelle. Sie alle werden von europäischen und außereuropäischen Politikern warm und freundlich empfangen – ohne dass sich letztere darüber bewusst sind, was dies für eine Botschaft an demokratisch eingestellte Menschen in Bulgarien aussendet.


Bulgarien steht vor einer Entscheidung

Und die Tatsache, dass der in Bulgarien als Politiker gescheiterte Vorsitzende der Sozialistischen Partei Sergej Stanischew nun Mitglied im Europäischen Parlament und Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Europas ist, hat eine hohe Welle von EU-Skeptizismus in Bulgarien hervorgerufen. Dies verstärkt den Glauben, dass die derzeitige Union der europäischen Demokratien die kriminelle pro-russische politische Klasse in Bulgarien nicht korrigiert, sondern befeuert. In Bulgarien findet niemand eine logische Antwort darauf, warum der in der Sowjetunion geborene Stanischew, der in der früheren UdSSR studierte und lebte und deren Bürger er war, plötzlich Chef der BSP wurde ohne jemals eine vernünftige Arbeit gehabt zu haben.

Und anschließend, trotz seines gewaltigen politischen Scheiterns in Bulgarien, hat er es verdient, als Chef der europäischen Sozialisten nominiert und gewählt zu werden. Die europäischen Steuerzahler sehen offenbar nichts Schlechtes an ihm, aber in Bulgarien gibt es für diese Vorgänge eine negative Erklärung, die nicht zugunsten der europäischen Werte ausfällt.

Bulgarien steht heute vor einer wichtigen Entscheidung: Im Moment steht es unter 100prozentiger Abhängigkeit von russischer Energie und wirtschaftlicher Kolonisation. Die europäische Unterstützung für pro-russische Energieprojekte wie South Stream – entgegen den europäischen Sanktionen und Meinungen – macht glauben, dass das zynische Statement des russischen EU-Botschafters Wladimir Chischow über das „trojanische Pferd“ nicht grundlos war.

Indes haben vor zwei Jahren bis heute andauernde Bürgerproteste das Land erfasst – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – und sie haben eine neue, unkontrollierte Agenda in der Entwicklung der bulgarischen Gesellschaft in Gang gesetzt. 25 Jahre nach dem Zerfall des Kommunismus wacht Bulgarien zwar langsam, aber unwiderruflich auf – mit dem wachsenden, echten und kompromisslosen Wunsch seine Freiheit zu verteidigen.


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