Russland

Russlands zerrissene Jugend

Die postsowjetische Generation in Russland lässt sich schwer auf einen Nenner bringen. In unserem Land wechselten sich die Mikro-Epochen so oft ab, dass die Abstände zwischen den Generationen von den soziologisch üblichen zwanzig Jahren auf zehn schrumpften, wenn nicht sogar sieben bis acht. Ein Mensch, der beim Zusammenbruch der UdSSR gerade die Schule abschloss, denkt ganz anders als einer, der damals gerade in die Schule kam. Und was soll man erst über die 1990er-Jahrgänge sagen!

Ich zum Beispiel kam zu Beginn der Perestroika zur Welt, im Jahr 1985, doch ich kann mich noch sehr gut an das sowjetische Erziehungssystem erinnern. Im Kindergarten wurden wir mit Gedichten über Lenin dressiert. Uns wurde verboten, uns während der Mittagsruhe so hinzulegen, wie wir wollten. Alle Kinder mussten auf der Seite schlafen, die Hände unterm Ohr. Ich hasste diese Pose, und mein Kindergarten-Dissidententum bestand darin, dass ich stur auf dem Bauch einschlief und die Hände unter das Kopfkissen steckte. Dafür wurde ich regelmäßig von den Erzieherinnen getadelt und geklapst. Dieser Erziehungsstil war damals normal und allgegenwärtig. In der Schule wurden wir ähnlich gedrillt und mussten immer mit gefalteten Händen am Pult sitzen. Wenn man sich meldete, musste der Ellbogen unbedingt auf dem Tisch bleiben. Jeder Schritt wurde normiert, wie im Straflager.

Mein Bruder, der 1993 geboren wurde, wuchs in einer ganz anderen Ordnung auf. Für ihn war es völlig normal, während der Stunde eine Wasserflasche aus dem Ranzen zu nehmen und zu trinken. Wir hätten für solche Ungezwungenheit noch einen Tadel bekommen. In solchen Kleinigkeiten wird besonders gut deutlich, wie unsere Lebenswelten uns formten.


Die Nachfrage nach Sowjet-Retro-Chic wird von oben befördert

Deswegen gibt es unter den 30-Jährigen naturgemäß mehr Menschen, die sich irgendwie, wenn auch sehr vage, mit der sowjetischen Vergangenheit identifizieren. Für Viele gilt die Aufmerksamkeit nur der äußeren Hülle: Nicht nur in der Mode herrscht ein Retro-Trend, mit T-Shirts, Clubs und Supermärkten mit dem Schriftzug „UdSSR“. Die Nachfrage nach Sowjet-Chic wurde auch von oben befördert – zuerst durch die Rückkehr zur Melodie der sowjetischen Nationalhymne im Jahr 2000, dann über politische Jugendbewegungen wie „Die Unsrigen“ oder „Die junge Garde“. Ich erinnere mich, wie ich als gebürtige Kaukasierin – im Kaukasus werden Ehen oft von den Eltern arrangiert – vor ungefähr acht Jahren einen der vorgeschlagenen Verehrer abwies, weil er Aktivist einer kommunistischen Jugendorganisation war. Die Kupplerin hatte mir das damals als Karrierevorteil präsentiert.

Seit den frühen 2000ern gibt es auf den wichtigsten TV-Kanälen immer mehr Sendungen, die die sowjetische Realität zurückbringen – die alten Lieder, den Alltag, den Lebensstil. Der Nostalgie für die „große Vergangenheit“ fallen auch viele Leute in meinem Alter anheim, obwohl sie zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs noch Kinder waren. Bei den weniger Gebildeten resultiert dieser Drang nach der verlorenen Größe in unreflektiertem Nationalismus. Schriftsteller und all jene, die sich der Intelligenzija zurechnen, organisieren indes Zirkel wie die „Avantgarde der roten Jugend“, versammeln sich in Buchläden mit marxistischer Literatur oder schreiben fiktionale Texte, in denen die Vor-Perestroika-Ära zum sakralen Mythos wird.

Für die 20-Jährigen ist die UdSSR wie die Zeit der Dinosaurier, weit entfernt und unvorstellbar. Andererseits kann man nicht sagen, dass diese Generation hundertprozentig liberal und eurozentrisch wäre. Unter ihnen finden sich auch solche, die man heute in Russland „Vatniki“ („Steppjacken“) nennt – ein Schimpfwort für die radikal konservative Unterschicht; für jene, die Homosexuelle verfolgen, die im Ukraine-Konflikt für die „Befreiung Neurusslands von faschistischen Okkupanten“ eintreten und die sich für sogenannte Werte stark machen, also gegen Spitzenunterwäsche, gegen öffentliche Lesungen von Klassikern, die vulgäre Sprache beinhalten, und gegen die doppelte Staatsbürgerschaft.


Schwarz-Weiß-Wahrnehmung ist typisch für die russische Jugend

Es gibt aber auch andersherum gepolte Radikale, die dogmatisch alles verurteilen, was in Russland passiert. Die beiden Gruppen befinden sich in einem permanenten Krieg miteinander, in Internet-Foren und sozialen Netzwerken. Weder die einen noch die anderen haben ein Interesse an Nuancen oder an der Wahrheit. Diese Schwarz-Weiß-Wahrnehmung der Welt ist sehr gefährlich, aber typisch für die russische Jugend.

Der Held der heutigen Jugend ist der Ausgestoßene, der zum Heiligen wurde. Ein Kämpfer für die höchste Wahrheit, der vom schwachen weltlichen Gesetz als Bandit und Räuber verfolgt wird. Einer, der de jure falsch liegt und de facto recht hat. Ein erbitterter Widersacher allen Übels, unverstanden entweder vom russischen System oder vom „dekadenten Westen“.

Von diesem Standpunkt aus sind die Mudschaheddin vom Kaukasus natürlich Helden. Sie brennen Bordelle nieder und sprengen korrupte Funktionäre in die Luft, sie wollen die Gerechtigkeit und Gottes Ordnung wiederherstellen. Helden sind demnach auch die Männer der ostukrainischen „Volkswehr“, die restlos von ihrer Sache überzeugt und vollgestopft mit russischer Propaganda im Kampf gegen den „Faschismus“ sterben. Auch die Mitglieder des ukrainisch-nationalistischen „Rechten Sektors“ kann man zu solchen Helden zählen, die für nationalen Stolz und nationale Einheit eintreten.

Viele dieser Menschen sind Angehörige der postsowjetischen Generation. Man kann sie für albtraumhafte, besessene Kriminelle und Terroristen halten oder für Erlöser, für Heilige. Das Schlimme daran ist, dass in gewisser Weise beides richtig ist.


Viele junge Menschen in Russland sind unerklärliche Chimären

Heute trifft man in Russland junge Menschen an, die unerklärliche Chimären sind. Ich habe einen Bekannten, der gleichzeitig aufgeklärter Liberaler und russischer Nationalist ist. Eine andere Bekannte ist mit 28 leidenschaftliche Kommunistin, sie besingt die Rückkehr zur Sowjetunion, ist dabei aber sehr fromm. Solche paradoxen Weltsichten sind häufig. Einerseits ist die Jugend in Russland kosmopolitisch und unterscheidet sich kaum von der europäischen Jugend, andererseits verabschiedet sie sich in religiösen oder politischen Konservatismus. In den muslimischen Regionen Russlands islamisiert sich die Jugend zunehmend, in den anderen leidet sie massenhaft an der „Orthodoxie des Gehirns“ – so nennt man in Russland all jene Heuchler, die Kirche und Staat treu ergeben sind.

All das ist nur durch die innere Zwiespältigkeit zu erklären, an der auch unser Land leidet. Russland kann sich nicht entscheiden: Will es die roten Sowjetsterne oder den russischen Doppeladler? Schaut es nach Osten oder nach Westen? Und was für ein Land will Russland sein – ein weites, seelenloses Imperium oder ein Ort, an dem vernünftige, denkende Menschen noch leben wollen und können?

Aus dem Russischen von Pavel Lokshin


Weitere Artikel