Krimtataren: Leben in Angst
Noch lange nach dem Freitagsgebet stehen die Männer im Hof der Moschee in Bachtschyssaraj beisammen, vertieft in Gespräche. Ihre Gesichter sind ernst, besorgt. Es waren schwierige sechs Monate für die Krimtataren, die muslimische Minderheit auf der Halbinsel im Schwarzen Meer. Denn ihr repräsentativer Rat, der Medschlis, rief die 300.000 dort lebenden Krimtataren damals dazu auf, das Referendum über die russische Annexion zu boykottieren. Bis heute erkennen sie die Krim nicht als russisch an und sind für die neue russische Staatsmacht deshalb ein Fremdkörper.
Die meisten Männer scharen sich auf dem Moscheehof um Ilmi Umerow, wollen ihre Sorgen loswerden, seine Einschätzungen hören. Er ist 57 Jahre alt, gelernter Gynäkologe und seit mehr als 20 Jahren Medschlis-Mitglied. „Es war nicht ideal für uns in der Ukraine, aber in den vergangenen sechs Monaten haben uns die russischen Machthaber unter beispiellosen Druck gesetzt“, sagt er. „Es gibt immer wieder Durchsuchungen wegen angeblichem Extremismus, man will all unsere politischen und religiösen Strukturen kontrollieren und uns einschüchtern.“
Die Krim-Tataren gelten als gemäßigt und säkular
Die Durchsuchungen, die oft im Morgengrauen stattfinden, werden meist unter dem Vorwand durchgeführt, gegen lokale Anhänger der internationalen, islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir vorzugehen. Die ist aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen und ist in Russland, ebenso wie zum Beispiel in der EU, verboten. In der Ukraine operiert sie in einer Grauzone. Wie viele Anhänger Hizb ut-Tahrir auf der Krim hat, ist völlig unklar. Insgesamt gelten die Krim-Tataren als gemäßigt und säkular, und der Medschlis distanziert sich klar von der Organisation.
Umerow war neun Jahre lang Verwaltungschef von Bachtschyssaraj, wo besonders viele Krim-Tataren leben, und von 2002 bis 2005 sogar stellvertretender Ministerpräsident der Krim. Vor ein paar Wochen ist er zurückgetreten, schweren Herzens, wie er sagt. Dabei habe der jetzige prorussische Ministerpräsident Sergej Aksjonow ihm angeboten zu bleiben.
Die Erinnerung an die Deportationen ist noch wach
„Aber nur, wenn ich meine Zunge im Zaum halte“, sagt Ilmi Umerow und lacht bitter. Das hat er nicht vor, ebenso wenig wie die anderen Medschlis-Mitglieder. Zwei Anführer des Rates haben von der russischen Regionalregierung ein Einreiseverbot auf die Krim bekommen und leben nun im Kiewer Exil. „Wir sind unserer wichtigsten Männer beraubt worden“, sagt Umerow. Laut Schätzungen der Aktivistenorganisation SOS-Krim haben rund 10.000 Krimtataren die Halbinsel seit dem Referendum verlassen.
Die Heimat verlieren, sie zurücklassen müssen – das ist für das Volk der Krimtataren eine Urangst. Im Jahr 1944 ließ Stalin sie nach Zentralasien deportieren, da er überzeugt war, dass sie mit den deutschen Faschisten kollaborierten. Umerow wurde im Exil in Usbekistan geboren und war einer der ersten, die Ende der achtziger, das Recht zurückzukehren, in Anspruch nahmen. Nun machen sie rund zwölf Prozent der Bevölkerung aus.
Die Skepsis vor Moskau ist größer als vor Kiew
In den Tagen rund um das Referendum im März taten sich die Krim-Tataren mit proukrainischen Aktivisten zusammen. Dabei standen sie der Übergangsregierung in Kiew erst skeptisch gegenüber. Doch eine russische Herrschaft fürchtet man mehr, mit ihr bringt man die Deportation der Tartaren in der Sowjetzeit in Verbindung – auch wenn Stalin Georgier war. So standen vor dem Referendum immer wieder muslimische Frauen und Kinder mit blau-gelben Luftballons am Straßenrand. Auf ihren Plakaten in ukrainischen Nationalfarben stand „Nein zum Krieg“ oder „Ja zur Ukraine“.
Zumindest Krieg hat es nicht gegeben, jedenfalls nicht auf der Krim. Ilmi Umerow sitzt nun auf der Terrasse seines Stammcafés in den Hügeln der Stadt. „Wir hatten keinen Krieg wie im Donbass, aber wir sind nun Teil von Russland“, sagt er. Er spricht erst leise, dann immer lauter. „Sollen wir uns also freuen?“, fragt er. „Das ist eine schwierige Frage, aber ich glaube wir Krimtataren haben keinen Grund zur Freude. Man will uns wieder unserer Heimat berauben."
Manche Tataren begrüßen die neuen Herren der Krim
Nach den russischen Regionalwahlen Mitte September, bei denen es zwar eine klare Mehrheit für den Kreml-Kurs, aber eine niedrige Wahlbeteiligung gegeben hat, hat die Staatsmacht den Druck auf die Krimtataren erhöht. Wieder hatte der Medschlis das Volk aufgerufen, die Wahl zu boykottieren. Einen Tag später stürmten maskierte Männer das Medschlis-Hauptquartier, gefolgt vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB. Fast zwölf Stunden lang durchsuchten die Männer das Gebäude und beschlagnahmten Computer und Dokumente.
Mittlerweile rechnen die Krimtataren mit dem Schlimmsten. Zumal der Krim-Premierminister Sergej Aksjonow gegenüber der russischen Zeitung „Kommersant“ vor Kurzem davon sprach, dass der Medschlis gar nicht existiere, da er nicht als Organisation registriert sei. Es folgte eine klare Warnung: All jene, die die russische Herrschaft auf der Krim nicht akzeptierten und stattdessen ethnischen Hass schürten, so Aksjonow, die werde er von der Krim vertreiben und hart bestrafen.
Es sind nicht alle Krimtataren gegen eine russische Krim. In einem Vorort der Krim-Hauptstadt Simferopol wohnt der 62 Jahre alte Seytumer Nimetulajew mit seiner Familie. Ein hoher Zaun und ein kleines Häuschen voller bewaffneter Sicherheitsleute schützen sein Anwesen. Bis vor Kurzem lebte er im Süden der Ukraine, war dort Inhaber eines großen Landwirtschaftsbetriebs und einflussreicher Regionalpolitiker für die Partei des durch die Maidanproteste gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch. Kurz nach der Flucht Janukowitschs wurde Nimetulajew vom Übergangspräsidenten entlassen. Er kehrte auf die Krim zurück, in seine Heimat.
Wer Karriere machen will, muss mit den Russen zusammenarbeiten
Gäste empfängt die Familie, die es in der Agrarbranche zu Reichtum gebracht hat, in einer Art Wintergarten mit einem fast 20 Meter langen Schwimmbad. Seytumer Nimetulajew, sein Sohn und einige befreundete Geschäftsleute haben gerade eine neue Organisation gegründet, die sie als Gegenpol zum Medschlis verstehen. „Birligi Krim“ heißt die (Einheit der Krim), und sie soll alle nationalen Minderheiten auf der Krim vereinen. Seit Wochen fahren sie über die Halbinsel, halten Treffen ab und treten im Fernsehen auf, erzählt Nimetulajew. Sein Ziel: die Krimtataren zu überzeugen, dass die russische Herrschaft gut für sie sei und dass es Zeit sei sich vom Medschlis abzuwenden. 8.000 Menschen hätten schon ihren Willen bekundet, Birligi beizutreten.
In den vergangenen Monaten konnte man im russischen Staatsfernsehen Nimetulajew bei Treffen mit Wladimir Putin sehen, wenn auch nur als einer von vielen. „Wladimir Putin hat uns bereits als Opfer von Stalin rehabilitiert und unsere Sprache neben Russisch und Ukrainisch zu einer der offiziellen Sprachen auf der Krim gemacht“, sagt er. Die ukrainische Regierung habe daran nie gedacht.
Dank Russland könnten Krimtataren nun Kompensationen für durch die Deportation verlorenes Land beantragen, sagt er. Seine persönlichen Ambitionen versteckt Nimetulajew nicht: Er will in die Regionalregierung auf der Krim, und zwar für die Putin-Partei „Einiges Russland“. „Die Menschen haben den Medschlis satt. Sie wollen leben und arbeiten, ihre Zukunft planen.“
Für Medschlis-Mitglied Ilmi Umerow sind all das Versuche des Kremls, die Krimtataren zu ködern und zu spalten. Er ist sicher, dass 90 Prozent der Krimtataren nach wie vor hinter dem Medschlis stehen. Ministerpräsident Aksjonow sagte im Kommersant-Interview, dass er davon ausgehe, dass höchstens 15 bis 20 Prozent der Krimtataren den Medschlis noch unterstützen. Überprüfbar ist keine der beiden Aussagen.
Fest steht: Viele Krimtataren haben russische Pässe angenommen, weil sie keine Wahl hatten – denn das ist auf der russischen Krim die Voraussetzung, um Besitz zu registrieren oder legal arbeiten zu können.
„Wir werden nicht aufgeben“, sagt Umerow. Aber er klingt ratlos, fast resigniert. Keiner hier weiß so recht, wie es weitergehen soll für sie auf der Krim oder wie lange sie überhaupt noch bleiben dürfen. Einen Grund, anzunehmen, dass die Lage auf der Halbinsel für sie besser wird, haben die Tataren nicht. Fest stehe nur eines, sagt Umerow: „Wir werden nicht zu den Waffen greifen.“