Osteuropas Angst vor Russland
Für die geschichtsbewussten Polen ist es ein Deja-vu, das die schlimmsten historischen Ängste weckt: Die Nato meldete fast zu demselben Zeitpunkt russische Soldaten in der Ostukraine, als vor 75 Jahren auf der Westerplatte der Zweite Weltkrieg begann.
„Wir Europäer müssen aus dem tragischen polnischen September Lehren ziehen”, sagte der polnische Premier Donald Tusk am Montag im Morgengrauen bei der Gedenkfeier in Gdansk (Danzig). „Und dies kann angesichts dessen, was in der Ostukraine passiert, kein naiver Optimismus sein”, so Tusk. „Polen, die USA und alle Verbündeten müssen eine Politik machen, die Sicherheit und eine gerechte Weltordnung garantiert”, erklärte er.
Die historische Angst vor Russland ist in Polen bereits seit Beginn des Ukraine-Konfliktes im vergangenen Jahr zu spüren. Die Polen erwarten von Tusk, dass er als neuer EU-Ratspräsident einen härteren Kurs gegenüber Russland fährt. Erst am Wochenende hatten die europäischen Staatschefs den Polen in dieses Amt gewählt.
Im Zentrum der Kritik steht Deutschland
Zur Angst vor Russland mischt sich zunehmend aber auch Enttäuschung über Deutschlands Haltung im Ukraine-Konflikt. „Jeder, der jetzt Putin nicht die Stirn bietet, macht die EU und ihre Werte lächerlich”, mahnen 20 polnische Intellektuelle in einem Appell an die Regierungen und die Bürger in Europa, den sie am Montag zum 75. Jahrestag des Kriegsbeginns in der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ und in ausländischen Medien veröffentlichten.
Zu den Unterzeichnern gehört auch der Deutschlandbeauftragte der polnischen Regierung, Wladyslaw Bartoszewski. Im Zentrum des Appells steht die Kritik an Deutschland, das sich bereits Anfang der 1980er-Jahre systematisch von russischem Gas abhängig gemacht habe.
In der „Gazeta Wyborcza“ sammeln sich derzeit die Stimmen der Deutschlandkritiker. Das ansonsten als deutschfreundlich geltende Blatt machte am Wochenende mit einem Titelfoto der deutschen Bundeskanzlerin und der Schlagzeile auf: „Deutschland wird uns nicht verteidigen.“
Flankiert wird die Schlagzeile von einem Gastbeitrag der Ehefrau von Außenminister Radoslaw Sikorski, der US-Journalistin Anne Applebaum. „Die Invasion in der Ukraine zeigt, dass die deutsche Politik von Zuckerbrot und Peitsche gegenüber Russland gescheitert ist“, moniert sie. Deutschland habe keinen Plan B. „Krieg in Europa ist kein hysterischer Gedanke mehr”, sagt Applebaum.
Ein „Krieg gegen Europa“
Die Skepsis gegenüber Deutschland ist seit dem letzten Krisentreffen im Ukraine-Konflikt Mitte August in Berlin gestiegen. Nur Frankreich, die Ukraine, Russland und der Gastgeber nahmen daran Teil, Polen blieb außen vor. Die Bundesregierung schwieg sich über die Gründe aus, offenbar hatte aber Russland gegen eine Teilnahme Polens protestiert, und Deutschland wollte die Verhandlungen insgesamt nicht gefährden.
Mit Sorge verfolgt auch der Rest Osteuropas die mutmaßliche russische Invasion in der Ukraine. „Russland ist praktisch im Krieg mit Europa“ warnte die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite am Wochenende. Erst vor 23 Jahren erkämpften die Balten ihre Unabhängigkeit von Moskau. Hinzu kommt: Die baltischen Länder sind besorgt, dass Moskau einmarschieren könnte unter dem Vorwand, die russische Minderheit zu schützen. Allein in Lettland und Estland ist jeder dritte Bürger russischer Herkunft. Aus Solidarität und Angst protestierten die Menschen in den vergangenen Wochen wiederholt gegen den Vormarsch russischer Truppen in der Ukraine.
Die Osteuropäer setzen nun auf die Nato, die Medienberichten zufolge neue Stützpunkte in der Region planen soll, darunter auch in Polen und im Baltikum. Auf dem anstehenden Nato-Gipfel Ende der Woche in Wales will das Bündnis zudem über eine neue Eingreiftruppe entscheiden, die unter britischer Führung und zeitlich begrenzt in den baltischen Staaten stationiert werden soll. „Die Nato hat schnell genug auf die Ereignisse in der Ukraine reagiert“, sagte der Oberkommandeur der lettischen Streitkräfte Raimondas Graube am Montag im Fernsehen. „Sie nimmt unsere Sorgen vor einem Angriff Russlands endlich ernst.“