Polen

„Gestern Danzig, heute Donezk“

„Sterben für Danzig?“ Dieser Satz drückte die Haltung Westeuropas gegenüber dem Krieg aus, der vor genau 75 Jahren ausbrach. Dreimal hatten Frankreich und Großbritannien den Diktator Deutschlands ermuntert: Der „Anschluss“ Österreichs, die Besetzung des Sudetenlands und die Zerschlagung der Tschechoslowakei hatten für Hitler und seinen Staat keinerlei schwerwiegende Konsequenzen.

Selbst als am 1. September 1939, nach Abschluss des deutsch-sowjetischen Paktes, in Danzig die ersten Schüsse fielen, fanden die Westmächte nur den Mut, einen symbolischen „komischen Krieg“ zu beginnen. Damit haben sie Hitler zum vierten Mal ermuntert. Sie dachten, um den Preis des Sterbens der Stadt Danzig könnten sie ihr eigenes Leben retten. Die – nach Warschau – nächste besetzte Hauptstadt war Paris, und wenig später hagelte es Bomben auf London. Erst dann wurde laut „Stop!“ und „Nie wieder Krieg!“ gerufen.


1939 darf sich nicht wiederholen

Eine solch egoistische und kurzsichtige Politik der Europäer gegenüber einem Aggressor darf sich nicht wiederholen. Die Entwicklungen heute und die plötzliche Zunahme der Spannungen erinnern an den Zustand von 1939. Ein aggressiver Staat, Russland, hat ein Gebiet seines kleineren Nachbarn besetzt, die Krim. Präsident Putins Armee und Geheimdienste operieren im Osten der Ukraine, bisher oft incognito. Sie unterstützen Einheiten, die die dortige Bevölkerung terrorisieren, und drohen offen mit einem Einmarsch.

Eine Sache ist allerdings neu gegenüber 1939: In den letzten Jahren, als die westlichen Partner noch an das „menschliche Antlitz“ des Aggressors glaubten, ist es diesem gelungen, viele europäische Politiker und Geschäftsleute in den Bannkreis seiner Interessen zu ziehen. Die damals entstandene Lobby hat die Politik vieler Länder beeinflusst und tut dies weiterhin. Die so entstandene Ostpolitik wurde als „Russia first-“ oder gar als „Russia only-Politik“ bezeichnet. Jetzt liegt sie in Trümmern. Europa braucht dringend eine neue, realistische Ostpolitik.


Keine französischen Schlachtschiffe für Russland

Daher appellieren wir an unsere Nachbarn und Mitbürger in Europa und an ihre Regierungen:

1. Frankreichs Präsident Francois Hollande steht vor der Versuchung, einen Schritt zu tun, der noch schlimmer wäre als Frankreichs Passivität im Jahre 1939. In den nächsten Wochen will Frankreich als einziges Land Europas dem Aggressor helfen: durch den geplanten Verkauf neuer, großer Schlacht- und Landungsschiffe des Typs „Mistral“.

Frankreich hatte diese Zusammenarbeit bereits 2010 aufgenommen und schon damals viele Proteste ausgelöst. Der vorige Präsident Nicolas Sarkozy hatte sie regelmäßig mit den Worten „Der Kalte Krieg ist vorbei“ abgeschmettert. Jetzt hat ein heißer Krieg begonnen; damit ist die Grundlage für die Verwirklichung dieses alten Vertrags entfallen. Mehrere Politiker haben bereits vorgeschlagen, Frankreich solle die Schiffe der Nato oder der EU verkaufen.

Sollte Präsident Hollande seine Meinung nicht bald ändern, sollten ihn die Bürger Europas mit einem Boykott französischer Waren überzeugen. Frankreich muss das Land der europäischen Freiheit bleiben und seiner großen Tradition die Treue bewahren.


Deutschland muss seine Verstrickungen mit Russland eindämmen

2. Die Bundesrepublik Deutschland hat bereits um das Jahr 1982 begonnen, sich in großem Maßstab von russischem Gas abhängig zu machen. Schon damals haben polnische Intellektuelle, darunter Czeslaw Milosz und Leszek Kolakowski, vor neuen Pipelines als potenziellen „Werkzeugen der Erpressung“ Europas gewarnt. Auch die polnischen Präsidenten Aleksander Kwasniewski und Lech Kaczynski haben darauf hingewiesen.

Aber die deutschen Politiker betrachteten die Zusammenarbeit mit den sowjetischen bzw. russischen Machthabern als sehr wertvoll, ob aufgrund des deutschen Schuldkomplexes, ob aufgrund des Glaubens an ein „russisches Wirtschaftswunder“ oder in der Hoffnung auf persönlichen Vorteil. Damit setzten sie zugleich – vielleicht unbewusst – die unselige deutsche Tradition fort, die ihnen nahelegt, im Osten nur mit einem Partner zu sprechen: mit Russland.

In den letzten Jahren haben Firmen des russischen Staates und der Oligarchen in Deutschland immer tiefer Wurzeln geschlagen, vom Energiesektor über das Fußballgeschäft bis in die Tourismusbranche. Deutschland sollte diese Art der Verstrickung, die immer auch politische Einflussnahme nach sich zieht, eindämmen.


Die Ukraine braucht Unterstützung

3. Alle Europäer und jeder Staat sollten sich an Hilfsaktionen für die bedrohte Ukraine beteiligen. Hunderttausende Flüchtlinge brauchen humanitäre Hilfe. Die Wirtschaft ist durch ungünstige Langzeitverträge mit der russischen Gazprom ausgeblutet. Der bisherige Erdgasmonopolist hatte der Ukraine als einem der ärmsten Kunden den höchsten Gaspreis abverlangt. Die Wirtschaft der Ukraine braucht dringend Hilfe, neue Partner und Investoren. Dies gilt ebenso für die großartige, lebendige Kulturszene, die Medien und Bürgerinitiativen des Landes.

4. Die EU hatte der Ukraine über viele Jahre gesagt, sie habe keine Chance – weder auf Mitgliedschaft noch auf mehr als nur symbolische Unterstützung. Auch die Politik der „Östlichen Partnerschaft“ hat daran wenig geändert; es blieb unklar, ob sie nicht lediglich eine Ersatzpolitik war. Doch plötzlich haben diese Fragen eine Eigendynamik entfaltet, vor allem Dank der unbeugsamen Haltung der ukrainischen Demokraten. Zum ersten Mal in der Geschichte starben Bürger mit der Europafahne in den Händen. Sollte Europa ihnen keine Solidarität erweisen? Das würde bedeuten, dass die Werte von 1789, Freiheit und Brüderlichkeit, für dieses Europa bedeutungslos geworden sind.


Kein „business as usual“ mehr

Die Ukraine hat das Recht, ihr Territorium und ihre Bürger vor einer Aggression von außen zu verteidigen, auch unter Einsatz von Polizei und Armee, auch in den Regionen an der Grenze zu Russland. Dort herrschte, wie im ganzen Land, von 1991 bis 2014 Frieden: Es gab keinen einzigen gewaltsamen Konflikt, auch nicht um die Minderheitenrechte.

Aber Wladimir Putin probt jetzt eine neue Art der Aggression und hat die „Hunde des Krieges“ von der Kette gelassen. Er verwandelt die Ukraine in ein Testgelände, wie es Spanien zur Zeit des Bürgerkriegs war. Damals kämpften faschistische Einheiten, von Nazi-Deutschland unterstützt, gegen die Republik. Wer heute Putin nicht „No pasaran“ entgegenruft, macht die Europäische Union und ihre Werte lächerlich und willigt ein, dass die Weltordnung umgestürzt wird.

Niemand weiß, wer Russland in drei Jahren regieren wird. Wir wissen nicht, was mit der heutigen Machtelite geschehen wird, die heute entgegen den Interessen ihres eigenen Volkes diese abenteuerliche Politik betreibt. Wir wissen nur eines: Wer heute weiter „business as usual“ betreibt, der setzt das Leben weiterer tausender Ukrainer und Russen aufs Spiel. Der riskiert weitere hunderttausende Flüchtlinge und einen Angriff des putinschen Imperialismus auf weitere Länder. Gestern Danzig, heute Donezk: Wir dürfen nicht zulassen, dass Europa auf viele Jahre mit einer offenen, blutenden Wunde lebt.

Gdansk, 1. 9. 2014

20 Unterzeichner:

Wladyslaw Bartoszewski
Jacek Dehnel
Inga Iwasiow
Ignacy Karpowicz
Wojciech Kuczok
Dorota Masłowska
Zbigniew Mentzel
Tomasz Rozycki
Janusz Rudnicki
Piotr Sommer
Andrzej Stasiuk
Ziemowit Szczerek
Olga Tokarczuk
Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki
Magdalena Tulli
Agata Tuszynska
Szczepan Twardoch
Andrzej Wajda
Kazimierz Woycicki
Krystyna Zachwatowicz

Aus dem Polnischen von Gerhard Gnauck

Der Text erscheint auch in der polnischen "Gazeta Wyborcza", der deutschen "Die Welt", dem britischen "Economist" und ukrainischen Medien.


Weitere Artikel